Handelsblatt, 08.02.2016, S. 48.
Nicht nur die Migration von außen in die EU hinein, sondern auch die Migration innerhalb der EU übersteigt derzeit alles, was man je hat in Europa beobachten können. Beide Migrationsprozesse vertragen sich nicht mit der Existenz des Sozialstaates.
Der Sozialstaat ist dadurch definiert, dass er denen, die überdurchschnittlich verdienen, mehr Steuern und Beiträge abverlangt, als sie an öffentlichen Leistungen zurückerhalten, während er den unterdurchschnittlich Verdienenden netto staatliche Ressourcen zukommen lässt. Diese Umverteilung ist ein sinnvolles Korrektiv der Marktwirtschaft, quasi eine Versicherung gegen die Zufälle des Lebens und die Härten der Knappheitsentlohnung, die die Marktwirtschaft kennzeichnet und die mit Gerechtigkeit wenig zu tun hat.
Sozialstaaten sind grundsätzlich nicht kompatibel mit der freien Wanderung der Menschen zwischen den Staaten, wenn die Migranten in den Genuss der staatlichen Leistungen des Gastlandes kommen. Die Staaten wirken wie ein Magnet für die Armutsflüchtlinge und ziehen viel mehr von ihnen an, als es aufgrund volkswirtschaftlicher Überlegungen ratsam wäre. Denn die Migranten erhalten zusätzlich zu ihrem Lohn eine Migrationsprämie in Form des staatlichen Umverteilungsgewinns. Nur wenn sie allein den Lohn erhielten, könnte man auf eine effiziente Selbststeuerung der Migration vertrauen.
Dieser Sozialmagnetismus führt nicht nur zu einer ineffizienten Verteilung der Menschen im Raum, sondern erodiert und lädiert zudem die Sozialstaaten. Außerdem treibt er die möglichen Gastländer auf die Dauer in einen Abschreckungswettbewerb durch die gezielte Rücknahme der sozialstaatlichen Leistungen über das hinaus, was bereits die Mittelknappheit gebietet.
David Cameron hat nun gegenüber der EU die richtige Konsequenz aus dieser Erkenntnis gezogen, indem er auch für die innereuropäischen Wirtschaftsflüchtlinge eine Einschränkung des Inklusionsprinzips fordert. Erst nach vier Jahren sollen Migranten in den Genuss steuerfinanzierter Sozialleistungen kommen, selbst wenn sie eine Arbeitsstelle finden.
Für nichtarbeitende EU-Migranten galt bislang schon, dass sie grundsätzlich erst nach einer Wartezeit von fünf Jahren in den vollen Genuss der staatlichen Sozialleistungen kommen. Der Vorschlag bedeutet im Prinzip keine sozialen Härten, weil er darauf hinausläuft, dass die EU-Migranten stattdessen während dieser Zeit vom Heimatland finanziert werden, wenn sie bedürftig werden.
In der Tat spricht viel dafür, die EU-Regeln viel stärker in die Richtung eines Heimatlandprinzips zu verändern. Das Heimatland bleibt trotz der Wanderung für eine Reihe von Jahren für Sozialfälle zuständig, und erst dann wechselt man zum Inklusionsprinzip.
Es ist ja auch schwer einzusehen, warum beispielsweise ein deutscher Sozialhilfeempfänger, der nicht arbeitsfähig ist, vom spanischen Staat versorgt werden sollte, wenn er es vorzieht, seinen Wohnsitz nach Mallorca zu verlegen. Genauso unplausibel wäre es, wollte man dieser Person die freie Wohnsitzwahl verwehren, bloß um den spanischen Staat zu schützen. Wenn man das europäische Ziel der Personenfreizügigkeit ernst nimmt, dann muss die heilige Kuh des Inklusionsprinzips endlich geschlachtet werden.
Das gilt natürlich nicht für Wirtschaftsflüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern, schon gar nicht für politisch Verfolgte. Bei solchen Menschen lässt sich das Heimatlandprinzip meistens nicht anwenden. Dennoch kann man sie aus den genannten Gründen nicht zu Hunderttausenden wie Einheimische in den Sozialstaat integrieren, ohne diesen Staat zu schädigen.
Deshalb bietet es sich an, wenigstens von den bislang dominierenden Lohnersatzleistungen, die ohne Arbeit zur Verfügung gestellt werden, zu einem System mit Lohnzuschüssen und Leistungen für kommunale Arbeit überzugehen. Das senkt die Nettokosten der Leistungen und verringert die Migrationsanreize.
Die deutsche Arbeitsministerin Andrea Nahles hat kürzlich Ähnliches unter dem Stichwort Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge ins Spiel gebracht, denn mit diesen Jobs wird die Grundsicherung faktisch zu einem Lohn für einfache Arbeit. Das ist ein überaus nützlicher Vorschlag in einer ansonsten chaotischen Grundsituation.