Handelsblatt, 08.08.2016, S. 48
Während die Bank of England nun den Investitionsstopp der City bekämpfen muss, sollten sich die EU-Länder an die eigene Nase fassen, damit ihnen nicht ähnliche politische Unglücke wie den Briten passieren. Denn das alles überragende Thema hinter der Entscheidung der Briten war die Migration. Die EU-Politik der weitgehend offenen Grenzen nach außen in Kombination mit Freizügigkeit und sozialer Inklusion nach innen ist mit dem Brexit gescheitert und muss nun dringend geändert werden.
In Wahrheit ist das Votum eine berechtigte Kritik an fundamentalen Konstruktionsregeln der Europäischen Union, die einst geschaffen wurden, um die Angleichung der Lebensverhältnisse mit der Brechstange zu erzwingen. Entweder kommen die Armen und holen sich den Wohlstand. Oder wenn die Migration nicht erwünscht ist, bringen ihn die reicheren Länder von allein. Dass hier jemand eine Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, ist offenkundig.
Die EU sollte das britische Misstrauensvotum zum Anlass nehmen, ihre Migrationsregeln grundlegend zu ändern. David Cameron hatte nämlich recht mit seinem Ansinnen. Die EU hätte ihm bei der Einschränkung des Inklusionsprinzips viel stärker entgegenkommen müssen, als sie es tat. Wenn sie ihre Wohlfahrtsmagneten nicht abschaltet, wird sie zerfallen, denn in vielen anderen EU-Ländern denken die Bürger ähnlich wie die Briten. Parteien, die das nicht wahrhaben wollen, werden ihr blaues Wunder erleben.
Das Grundproblem liegt in einem unauflösbaren Trilemma, das darin besteht, dass das Ziel der Freizügigkeit innerhalb der EU, das Ziel der Sozialstaatlichkeit und das Ziel der Inklusion der Migranten in das Sozialsystem des Gastlandes sich nicht gemeinsam realisieren lassen.
Heute ist es so, dass ein EU-Bürger, der in ein anderes EU-Land zieht, dort sehr rasch in das soziale Sicherungssystem integriert wird. Wer nicht arbeitsfähig ist, hat spätestens nach fünf Jahren bis ans Ende seiner Tage den vollen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Einheimische auch. In Deutschland haben EU-Bürger, auch ohne Arbeit zu suchen, sofort Anspruch auf Kindergeld. Bei fünf Kindern beträgt das Kindergeld 1 018 Euro monatlich. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was einem durchschnittlichen Arbeitnehmer in Bulgarien oder Rumänien nach Steuern und Sozialabgaben von seinem Arbeitseinkommen verbleibt.
Wer Arbeit sucht, aber keine findet, hat nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts schon nach sechs Monaten zusätzlich Anspruch auf ein existenzsicherndes Sozialeinkommen einschließlich der Warmmiete und auf eine freie Krankenversicherung - Leistungen, die für einen Alleinstehenden im Schnitt gut 1 000 Euro wert sind. Wer eine Arbeit gefunden hat oder selbstständig tätig ist, hat grundsätzlich die gleichen, freilich nur ergänzenden Ansprüche, und Geld für die Kinder bekommt er selbst dann, wenn die Kinder zu Hause bei den Großeltern leben.
Lässt man die Dinge laufen, werden die Sozialstaaten der EU erodieren, weil sie immer mehr zum Ziel der Armutsmigration werden. Da die Migranten zusätzlich zu ihrem Arbeitslohn auch noch das Umverteilungsgeschenk des Sozialstaates erhalten, kommen sie im Übermaß in die besser ausgebauten Sozialstaaten und belasten dort die Staatsbudgets. Die Sozialstaaten geraten in einen ruinösen Abschreckungswettbewerb, indem sie ihre Leistungen zurücknehmen, um nicht zum Ziel der Migranten zu werden. Das wiederum treibt die einheimische Bevölkerung auf die Barrikaden.
Verhindern kann man die Erosion nur, wenn die Freizügigkeit oder das Inklusionsprinzip eingeschränkt werden. Die EU muss also eine Güterabwägung zwischen der Qualität des Sozialstaates, der Freizügigkeit und der Inklusion vornehmen und entscheiden, welches der Ziele am ehesten geopfert werden kann. Es wäre am besten, sie würde das Inklusionsprinzip für EU-Migranten einschränken, denn wer Hand an den Sozialstaat legt, destabilisiert die Gesellschaft. Und wer die Freizügigkeit einschränken möchte, verletzt eine der Grundfreiheiten der EU.
Für EU-Binnenwanderungen sollte es möglich sein, bei den steuerfinanzierten Leistungen sowie den beitragsfinanzierten Leistungen in den ersten Jahren der Anwesenheit am neuen Wohnort das Heimatlandprinzip anzuwenden. Nach diesem Prinzip, kann sich jeder EU-Bürger innerhalb der EU frei bewegen, er kann aber nicht im Gastland die Hand aufhalten. Dort erhält er in den ersten Jahren nur die Leistungen, die er sich in einem echten Versicherungssystem mit kostengerechten Prämien selbst erarbeitet hat.
Die EU muss außerdem ihre Außengrenzen schließen, denn mit der frei zugänglichen Natur, der Infrastruktur, dem Rechtssystem und ihren Sozialleistungen verwaltet sie wertvolle Klubgüter, deren Konsum nicht beliebigen Wirtschaftsmigranten aus der ganzen Welt erlaubt sein kann. Wer glaubt, eine liberale Gesellschaft verlange offene Grenzen, hat nicht verstanden, dass Freiheit den Schutz des Eigentums voraussetzt. Nur wenn man sich die Güter, die man haben will, kaufen muss (oder sie allenfalls geschenkt bekommt), statt sie sich selbst anzueignen, herrscht Frieden in dieser Welt.
Dessen ungeachtet bleibt die humanitäre Aufgabe zu erfüllen, politisch Verfolgten aus Drittländern Asyl und dann natürlich die Inklusion in das Sozialsystem des Gastlandes zu gewähren. Aber um die wenigen Menschen, die in diese Kategorie fallen (in Deutschland 2015 gerade mal 0,7 Prozent der bearbeiteten Anträge) von den Wirtschaftsflüchtlingen zu trennen, braucht man Antragssysteme, notfalls auch Aufnahmelager, die außerhalb der Grenzen der EU zu einer Entscheidung kommen. Jeder andere Weg provoziert noch mehr Chaos und EU-Austritte.
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