ifo Standpunkt Nr. 12: Transferökonomie

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 30.06.2000

Der zehnte Jahrestag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist der Tag des Wohlstandswunders in den neuen Bundesländern. Lagen die Reallöhne zu DDR-Zeiten etwa bei 30 % der Westlöhne und die nominalen, zum Wechselkurs gerechneten Löhne bei nur 7 %, so erreichen die Nominallöhne heute 70% der westdeutschen Löhne und die nominalen Haushaltsnettoeinkommen 80%. Die Renten aus der staatlichen Rentenversicherung liegen pro Haushalt sogar bei 110% der westdeutschen Werte.

Dennoch: In Ostdeutschland ist keine funktionierende Marktwirtschaft, sondern eine Transferökonomie entstanden. Das Bruttoinlandsprodukt der neuen Länder liegt heute bei etwa 440 Mrd. DM und der gesamte Verbrauch an Waren und Dienstleistungen durch die Privaten und den Staat - die Absorption - bei etwa 650 Mrd. DM. Ein Drittel des ostdeutschen Verbrauchs, also etwa 210 Mrd. DM, wird vom Westen finanziert; davon fließen 140 Mrd. DM über öffentliche Kassen, und etwa 70 Mrd. DM sind private Kapitalexporte, wovon allerdings 10 Mrd. DM Kredite zur Finanzierung der ostdeutschen Länderhaushalte sind.

Diese Transfers wurden nötig, weil der Aufholprozess Ostdeutschlands nach dem Auslaufen des Fördergebietsgesetzes im Jahr 1996 jäh zum Stoppen kam. Die Hauptursache für diesen Misserfolg liegt zweifellos bei den Löhnen. 1991 wurden durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, die alle aus dem Westen kamen, viel zu hohe Löhne ausgehandelt. Heute liegen die ostdeutschen Lohnkosten bei gut 70 % des Westniveaus, die gesamtwirtschaftliche ostdeutsche Arbeitsproduktivität jedoch nur bei etwa 55 %. Ein Land, das Arbeitsplätze schaffen und wachsen will, braucht die umgekehrte Relation. Dort darf die Produktivität nicht hinter den Löhnen herhinken, sondern muss ihr vorauseilen.

Dass sich Lohnzurückhaltung auszahlt, zeigt das irische Beispiel, wo man vom Eintritt in die EU vor 30 Jahren bis heute die gesamtwirtschaftliche Produktivität von 27% auf 85% des westdeutschen Wertes steigern konnte. Das stürmische Wachstum ergab sich, weil die Löhne hinter der Produktivität herliefen. Noch heute liegen die Löhne mit einem Abstand von 30 Prozentpunkten hinter der Produktivität, wenn man beide Größen mit dem jeweiligen westdeutschen Niveau vergleicht. Die Folge ist, dass Irland kein Leistungsbilanzdefizit in der Höhe von 50% des BSP hat wie die neuen Länder, sondern sogar einen Leistungsbilanzüberschuss.

Die Strategie der übereilten Lohnangleichung ist mit vielen haltlosen Argumenten gerechtfertigt worden wie mit der Schaffung zusätzlicher Nachfrage oder dem Anreiz zu besonderen Produktivitätssteigerungen in den ostdeutschen Betrieben. Besonders falsch war das Argument, die Löhne hätten so schnell steigen müssen, weil es sonst zu einer Massenabwanderung gekommen wäre. Einerseits fand nämlich die Abwanderung wegen der lohnbedingten Arbeitslosigkeit ohnehin statt, andererseits war das nicht schlimm, sondern gut. Statt im Osten an veralteten Maschinen zu arbeiten oder untätig auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu warten, war eine temporäre Westwanderung und die Beschäftigung auf den produktiven Arbeitsplätzen des Westens bestimmt die bessere Alternative.

Die vom Markt letztendlich erzwungene Lohnzurückhaltung gibt Hoffnung und wird bitter nötig sein, wenn die ostdeutsche Wirtschaft auch nach der EU-Osterweiterung wettbewerbsfähig bleiben will.

Hans-Werner Sinn
Präsident des ifo Instituts