Deutschland hat ein Lohnkostenproblem. Die Stundenlohnkosten der Industriearbeiter sind in den letzten zwanzig Jahren real um fast vierzig Prozent gestiegen. Das war mehr als bei den meisten Wettbewerbern und hat Deutschland seiner Wettbewerbsfähigkeit beraubt. Die Stundenlöhne der deutschen Industriearbeiter sind die höchsten auf der ganzen Welt, und sie übersteigen die Löhne der Wettbewerber in Fernost und in Osteuropa um ein Vielfaches. Das ist ein zunehmendes Problem für die deutsche Wirtschaft. Es erklärt den Rekord an Konkursen, der derzeit zu verzeichnen ist, und die Standortverlagerungen des Mittelstandes, die oftmals das letzte Mittel sind zu überleben.
Die Löhne können so viel höher als anderswo sein, wie wir Deutschen besser als andere sind. Um die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, brauchen sie deshalb nicht auf das polnische Niveau zu fallen. Aber es wäre schon gut, wenn der Abstand zu einem Land wie den Niederlanden, der sich in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut hat, wieder rückgängig gemacht werden könnte. Die holländischen Löhne sind nämlich nur um 23% gestiegen, und Holland hat trotz der Flaute der Weltwirtschaft einen hohen Beschäftigungsstand erreicht. Dazu müssten unsere Lohnkosten pro Stunde um 12% fallen.
Das könnte knapp erreicht werden, wenn die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversicherung den Arbeitnehmern angelastet würden oder wenn die Arbeitnehmer die Arbeitgeberbeiträge zur Renten- und zur Krankenversicherung übernähmen. Alternativ würde es reichen, wenn die Lohnsteigerung 11 Jahre lang um einen Prozentpunkt unter dem Produktivitätszuwachs gehalten werden könnte. Beides sind indes keine Alternativen, mit denen sich die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften anfreunden könnten.
So verbleibt die Verlängerung der Arbeitszeit als sinnvolle Möglichkeit. Eine elfprozentige Verlängerung der Arbeitszeit würde den Unternehmen ebenfalls die Kostenentlastung bringen, die den über zwanzig Jahre gegenüber Holland aufgebauten Nachteil ausgleicht. Elf Prozent mehr Arbeitszeit entsprechen einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit um etwa vier Stunden. Für die meisten Arbeitnehmer hieße dies, dass sie nun 42 statt 38 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Das ist kein Beinbruch. Es bringt die Arbeitszeit wieder auf das Niveau zurück, das sie vor zwanzig Jahren innehatte.
Auch im internationalen Vergleich wäre Deutschland keinesfalls in einer Extremposition. Heute haben wir die drittniedrigste jährliche Arbeitszeit der OECD-Länder. Wenn wir 11 Prozent mehr arbeiten, dann würden wir mit jährlich 1.628 Arbeitsstunden im guten Mittelfeld und auf jeden Fall noch unter solchen Ländern wie Großbritannien, Finnland, Irland oder Spanien liegen. Wir hätten ungefähr das italienische Niveau erreicht, und das ist ja bekanntlich noch mit dem dolce Vita kompatibel. Warum also nicht?
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts
Erschienen unter dem Titel "Wieder 42 Stunden arbeiten", Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 168, 23.07.03, S. 11.