Die deutsche Krankheit ist die extrem hohe Arbeitslosigkeit bei den gering Qualifizierten, mit der Deutschland an der Spitze der OECD-Länder liegt. Vierzig Prozent der deutschen Arbeitslosen sind formell gering qualifiziert, und auch bei den restlichen sechzig Prozent massiert sich die Arbeitslosigkeit unter den weniger gut Qualifizierten. Die Politik der Sockellohnvereinbarungen im Verein mit einem überdurchschnittlich raschen Anstieg der Lohnersatzeinkommen hat die Lohnskala in den letzten dreißig Jahren von unten her zusammengestaucht, obwohl die wachsende Niedriglohnkonkurrenz aus aller Welt eine stärkere Spreizung erfordert hätte. Dies ist die Ursache der deutschen Krankheit.
Die wichtigsten Lohnersatzeinkommen, die den Lohnauftrieb bei den gering Qualifizierten hervorgerufen haben, sind die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe. Beide werden gezahlt, wenn man nicht arbeitet, und versiegen, wenn man es tut. Sie schaffen Anspruchslöhne, die über der Produktivität vieler Betroffener liegen und deshalb eine auch für den Arbeitgeber profitable Anstellung unmöglich machen. Es ist gut, dass Hartz IV nun wenigstens die Arbeitslosenhilfe abschafft, aber diese Maßnahme reicht noch nicht, weil die Sozialhilfe selbst viel zu hoch ist, als dass die von ihr erzeugten Anspruchslöhne einen Beschäftigungsschub im Niedriglohnbereich zulassen würden. Um einen solchen Schub zu erzeugen, müssten die heutigen Niedriglöhne sicherlich um ein Drittel fallen.
Damit dies geschieht, sollte der Eckregelsatz der Sozialhilfe für Erwerbsfähige gesenkt werden, und im Ausgleich sollten großzügige Hinzuverdienstmöglichkeiten bei gleichzeitiger Zuzahlung zu geringen Einkommen geschaffen werden, ähnlich wie es in Amerika mit dem Earned Income Tax Credit geschieht und wie es das ifo Institut mit seiner Aktivierenden Sozialhilfe empfohlen hat. Dann steigen die Einkommen der gering Qualifizierten, und trotzdem werden Jobs geschaffen. Um sicherzustellen, dass jeder ein akzeptables Einkommen verdienen kann, müssen freilich die Kommunen bereit sein, für den Notfall Leiharbeitsverhältnisse anzubieten, die in Höhe der bisherigen Sozialhilfe bezahlt werden.
Wenn die Politik die Absenkung des Eckregelsatzes nicht wagt, dann muss sie wenigstens dafür sorgen, dass die Zumutbarkeitsregeln verschärft werden. Zumutbar muss jede Arbeit sein, auch wenn der Lohn deutlich unter der Sozialhilfe liegt, denn die staatliche Zuzahlung zum Lohn schafft ja den Ausgleich. Das ist der Kern des Gesetzentwurfs der Bundesländer, der auf dem ifo Vorschlag basiert.
Leider wird genau dies durch die Vergleichslohnregelung verhindert, die die SPD-Linken in allerletzter Minute durchgesetzt haben. Die Sozialhilfe wird nur gekürzt oder gestrichen, wenn man eine zumutbare Arbeit verweigert, aber zumutbar ist keine Arbeit, deren Lohn unter dem ortsüblichen Vergleichslohn liegt. Damit ist Hartz IV zur Wirkungslosigkeit verdammt, denn bekanntlich gibt es zu den ortsüblichen Vergleichslöhnen nicht genug Stellen. Die ortsüblichen Vergleichslöhne sind ja genau jene heute schon gezahlten Löhne, die verhindert haben, dass genügend Stellen geschaffen wurden, um die Massenarbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich zu verhindern.
Einen gewissen Mobilisierungseffekt am Arbeitsmarkt wird es nur insofern geben, als es nun höher qualifizierten Arbeitslosen zugemutet wird, einfachere Stellen anzunehmen. Insofern wird ihre Arbeit billiger, und es kann damit gerechnet werden, dass ihre Arbeitslosigkeit fällt. Der Effekt wird aber größtenteils auf dem Wege der Verdrängung der weniger gut qualifizierten Arbeitnehmer zustande kommen, die es in ihren Lohnsegmenten nun mit mehr Konkurrenz zu tun bekommen. Die Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten wird noch verstärkt, die deutsche Krankheit verschlimmert sich.
Damit ist Hartz IV in gewisser Weise das genaue Gegenteil von dem, was der Arbeitsmarkt braucht. Das Gesetz erlaubt eine Lohnsenkung in jenen Qualifikationssegmenten des Arbeitsmarktes, in denen die Arbeitslosigkeit gering ist, und verhindert eine solche Senkung dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist. Falscher kann man die Sozialreform schwerlich konstruieren.
Nun muss man auf den Bundesrat setzen. Ein Lob dem föderalen System, das die Umsetzung der unsinnigen Wünsche der SPD-Linken verhindern wird.
Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts