ifo Standpunkt Nr. 57: Das Exporträtsel

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 2. November 2004

Die Weltwirtschaft wächst im Jahr 2004 mit etwa 5%. Sie boomt wie seit 28 Jahren nicht mehr. Dennoch lahmt das Wirtschaftswachstum in Deutschland, und der Arbeitsmarkt steckt in der Krise. Der Konsum und insbesondere die Investitionen bleiben schwach. Der deutschen Konjunktur fehlt die Dynamik früherer Aufschwünge.

Der deutsche Export wird zwar von den rasant wachsenden Investitionen der Weltwirtschaft mitgezogen. Er steigt dieses Jahr um etwa 10%. Deutschland wird deshalb den Titel des Vizeweltmeisters beim Export verteidigen können. Doch die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für 2004 nur 1,8% und für 2005 nur 1,5% Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt. Deutschland gehört damit weiterhin zu den europäischen Schlusslichtern.

Die deutsche Wirtschaft wirft ein Rätsel auf. Warum führt der gewaltige Nachfrageschub, der im Jahr 2004 von außen auf die deutsche Wirtschaft zukam und der alles übertraf, was Herr Eichel selbst mit der verwegensten Verschuldungspolitik hätte erreichen können, nicht zu mehr Wachstum? Warum lahmen Arbeitsmarkt und Binnennachfrage, obwohl der Export boomt?

Die Antwort ist, dass die deutschen Exportfirmen wettbewerbsfähig sind, die deutschen Arbeitnehmer jedoch nicht. Während die Firmen als Rechtspersönlichkeiten und Träger der Marken ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern, indem sie immer größere Anteile ihrer Vorproduktketten in Niedriglohnländern fertigen lassen, haben erhebliche Teile der deutschen Arbeitnehmer ihre Wettbewerbsfähigkeit bereits verloren. Das ist die These von der Basar-Ökonomie.* Industrielle Wertschöpfung, Beschäftigung, Lohneinkommen und damit auch privater Konsum werden zunehmend von der Industrieproduktion abgekoppelt. Die um ihre Arbeitsplätze bangenden Arbeitnehmer wagen es nicht, größere Ausgaben zu tätigen, und die Unternehmer trauen sich angesichts der immer schärfer werdenden Niedriglohnkonkurrenz aus dem Ausland nicht, in deutsche Arbeitsplätze zu investieren. Wenn investiert wird, so erwägt man eine Investition in einem der östlichen Niedriglohnländer, die vor der deutschen Haustür liegen.

Der hohe deutsche Exportüberschuss ist definitionsgemäß ein Kapitalexport. Er ist damit zugleich ein Indikator für den Export von Arbeitsplätzen in andere Länder. Nicht weniger als 4 Millionen Arbeitsplätze haben deutsche Unternehmen nach der Direktinvestitionsstatistik der Deutschen Bundesbank bereits im Ausland geschaffen, die vielen Arbeitsplätze, die durch deutsches Finanzkapital im Ausland geschaffen wurden, sind dabei noch nicht einmal mitgerechnet.

Zwar nimmt die industrielle Wertschöpfung mit den Exporten zu und liefert positive Konjunkturimpulse für die deutsche Wirtschaft, doch verlieren diese Impulse wegen der zunehmenden Entkoppelung von Wertschöpfung und Industrieproduktion an Kraft. Die Entkoppelung ist vielerorts zu beobachten. Sie verläuft in Deutschland aber deutlich schneller als in den anderen europäischen Ländern, ja sie verläuft aus volkswirtschaftlicher Sicht sogar zu schnell. Die Industriebeschäftigung geht nämlich zurück, ohne dass im Dienstleistungsgewerbe genügend Arbeitsplätze zur Aufnahme der freigesetzten Menschen entstehen. Ein Prozess, der im Prinzip als Kennzeichen einer Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung begrüßt werden kann, ist in Deutschland überzogen. So gingen zwischen 1995 und 2003 nicht weniger als 1,9 Milliarden Arbeitsstunden im Produzierenden Gewerbe (ohne Bau) verloren, doch lediglich 290 Millionen Stunden entstanden in diesem Zeitraum im gesamten Rest der Wirtschaft. Netto lag der Verlust also bei 1,61 Milliarden Stunden. Arbeitnehmer wanderten nicht von der Industrie in andere Sektoren der Wirtschaft, sondern zum Sozialstaat.

Verantwortlich hierfür war im Wesentlichen die Starrheit der Löhne für einfache Arbeit, die selbst wiederum auf das Tarifrecht und die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates zurückzuführen ist. Einfache Industriearbeit in Deutschland ist nicht mehr wettbewerbsfähig, weil sie zu teuer ist. Die deutschen Arbeitskosten pro Stunde sind höher als bei praktisch allen Wettbewerbern. Sie übersteigen selbst die schwedischen Kosten um ein Drittel. Solange dieses Problem nicht gelöst wird, wird der Export die Binnenkonjunktur nicht antreiben können.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Das Exporträtsel", Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2004, S. 24.

* Vgl. ifo Standpunkt Nr. 50 vom 8. Januar 2004, zuerst erschienen unter dem Titel "4,5 Millionen Verlierer", Die Zeit, 22. Dezember 2003, S. 28.