ifo Standpunkt Nr. 63: Die Argumente der Reformgegner

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 4. März 2005

Die Gegner der deutschen Reformen sind in die Defensive geraten, aber sie wehren sich heftig, indem sie die Protagonisten der Reformen als Schwarzmaler titulieren. Hier ein Glossar ihrer Argumente nebst einer Erwiderung.

Uns geht es gut. Die Behauptung, Deutschlands Wirtschaft hätte ein Problem, ist aus der Luft gegriffen.

Deutschland hat eine Massenarbeitslosigkeit und ist das Land in Mittel- und Westeuropa, das seit 1995 mit Abstand am langsamsten wuchs. Wir sind Schlusslicht.

Das langsame Wachstum ist eine kaum vermeidbare Implikation der deutschen Vereinigung.

Wenn die neuen Länder zum Westen aufschließen, muss Gesamtdeutschland schneller wachsen, nicht langsamer. Selbst Westdeutschland für sich genommen ist seit 1995 langsamer gewachsen als jedes andere Land in Mittel- und Westeuropa und Ostdeutschland noch langsamer.

Wer in andere europäische Länder wie z.B. das beim Sozialprodukt angeblich führende Irland oder Finnland reist, sieht mit bloßen Augen, dass die Wirtschaft noch nicht so entwickelt ist wie die deutsche.

Was man sieht, ist der Kapitalstock in Form von Immobilien, der aus dem Sozialprodukt vergangener Jahrzehnte aufgebaut wurde. Die Statistik von heute zeigt das Deutschland von morgen.

Beweisen nicht die Rekordgewinne der Unternehmen wie Siemens, E.ON oder BASF, dass die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig ist?

Nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeiter ist das Problem. Die Unternehmen retten sich meist durch eine Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer (Basar-Effekt). Dort entstehen die Gewinne, mit denen sie die inländischen Verluste abdecken. Wer nicht ins Ausland geht, hat Probleme. Mit 30.000 Pleiten pro Jahr hat Westdeutschland gerade die Rekordmarke überschritten.

Zeigen nicht die Daten des Statistischen Bundesamtes, dass Deutschland keine Basar-Ökonomie ist und dass noch genügend Wertschöpfung stattfindet?

Nach diesen Daten führt ein zusätzlicher Euro Export postwendend zu 55 Cent an Importen. Dennoch steigt die Wertschöpfung im Export wie in jedem Land, das sich spezialisiert. Aber sie fällt in anderen Sektoren zu schnell. Der Nettoeffekt wird durch die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gemessen, und die ist, wie erwähnt, die niedrigste weit und breit.

Ist Deutschland nicht Exportweltmeister?

Nein, wir waren im Jahr 2004 mit 9% Abstand hinter den USA Vize. Weltmeister sind wir nur, wenn man die Dienstleistungsexporte abzieht. Zur Exportstärke trägt die Aufwertung des Euro bei, durch die selbst die deutschen Exporte in den Euroraum bei der Umrechnung in Dollars vergrößert werden. Außerdem werden die Exporte durch den Basar-Effekt aufgebläht. Ein Prozent Zunahme der Wertschöpfung im Export erhöht das Exportvolumen um 1,36%.

Aber wir haben einen Rekordüberschuss in der Leistungsbilanz. Beweist das nicht die Wettbewerbsfähigkeit?

Definitionsgemäß ist dieser Überschuss ein Maß für den Kapitalexport Deutschlands. Die Ersparnisse, die in Deutschland nicht in Investitionen umgesetzt werden, fließen als Kredite ins Ausland, und Ausländer kaufen dafür Waren in Deutschland. Besser wäre es, die Ersparnisse würden zu inländischen Investoren fließen, die damit Bauleistungen oder Maschinen in Deutschland kaufen, denn dann würden hier neue Arbeitsplätze entstehen.

Länger zu arbeiten bringt nichts. Inklusive der Überstunden arbeiten wir ohnehin schon 42,5 Stunden.

Der Durchschnitt der tariflichen Arbeitszeit liegt bei 38 Stunden. Es kommt darauf an, bei gleichem Lohn länger zu arbeiten. Eine entlohnte Mehrarbeit bringt den Unternehmen keine Kostenentlastung.

Wenn länger gearbeitet wird, werden nur noch mehr Menschen entlassen. Man muss die wenige Arbeit gerechter verteilen und kürzer arbeiten.

Die Verkürzung der Arbeitszeiten in Deutschland hat nachweislich zur Zunahme der Massenarbeitslosigkeit beigetragen (J. Hunt, Quarterly Journal of Economics). Den festen Arbeitskuchen gibt es nicht. Wenn die Menschen pro Tag länger arbeiten, arbeitet auch der Kapitalstock (Gebäude und Maschinen) länger. Es gibt einen sofortigen Wachstumsschub, und im zweiten Schritt werden die Unternehmen mehr Leute einstellen, weil es vor den Werktoren noch Menschen gibt, die erst nach der Verlängerung der Arbeitszeit so viel erzeugen, wie sie kosten.

Statt länger zu arbeiten brauchen wir technischen Fortschritt, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und die deutschen Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb muss der Staat die Innovationen fördern.

Für die Wirtschaft ist die Verlängerung der Arbeitszeit dasselbe wie ein technischer Fortschritt, der die Produktivität der Menschen und des Kapitals vergrößert. Alle Effekte auf den Wirtschaftsablauf sind identisch. Gegen die Förderung von Grundlagenforschung spricht nichts. Nur wirkt die Arbeitszeitverlängerung viel schneller.

Wer soll denn die zusätzlichen Produkte kaufen, wenn länger gearbeitet wird und keiner zusätzlich Geld verdient?

Die Unternehmen verdienen dann sehr wohl zusätzliches Geld. Die Steigerung der Unternehmensgewinne und damit die Zunahme der Kaufkraft der Unternehmer ist bis auf den letzten Cent identisch zum Wert der Mehrproduktion. Die Unternehmer werden das Geld nicht horten, sondern selbst für den Kauf von Investitionsgütern ausgeben oder anderen leihen, die es dann für den Kauf solcher Güter ausgeben.

In den neuen Bundesländern gibt es viele Arbeitslose, obwohl die Löhne noch so viel niedriger sind als im Westen. Beweist das nicht, dass es auf die fehlende Nachfrage ankommt?

Die Arbeitslosigkeit hängt von den Löhnen und der Produktivität ab. In den neuen Ländern sind die Löhne viel schneller gewachsen als die Produktivität. Die Nachfrage übersteigt die eigene Erzeugung dank der riesigen staatlichen Transfers und dank eines gewissen Zustroms an Finanzkapital um bald die Hälfte. Noch nie hat es eine Großregion gegeben, in der es einen ähnlich großen Nachfrageüberhang gab.

Ist nicht die Produktivität im Osten schon so hoch wie im Westen.

Nein, je Erwerbstätigen lag das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2004 bei 72%. Dabei ist die Null- Produktivität der Arbeitslosen nicht einmal mitgerechnet. Die Produktivität im Sinne des Bruttoinlandsprodukts je Person im erwerbsfähigen Alter liegt bei 59% des Westniveaus. Die Monatslöhne liegen schon in der Nähe von 80%.

Die Wirtschaftspessimisten sind wegen der schlechten Stimmung, die sie verbreiten, selbst am Verlust der Arbeitsplätze schuld.

Wenn der Patient der Operation zustimmen soll, muss man ihm die Wahrheit sagen, auch wenn das seine Stimmung vermiest. Opium sollte man nur geben, wenn die Krankheit hoffnungslos ist.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Die Irrtümer der Reformgegner", Süddeutsche Zeitung, Nr. 62, 4. März 2005, S. 24.