Die Presse, 07.02.2017, S. 13
Die Presse: Sind die Maastricht-Kriterien heute mausetot?
Hans-Werner Sinn: Ja. Sie wurden auch schon beim Eintritt in die Währungsunion verletzt. Das wichtigste Kriterium war die Verschuldungsgrenze von 60 Prozent des Sozialprodukts. Italien und Belgien hatten damals schon 120 Prozent und durften trotzdem mitmachen. Die anderen Kriterien wurden nachher beschlossen - aber auch nicht respektiert. Der Stabilitätspakt, der eine Defizitobergrenze von drei Prozent vorgibt, wurde 165-mal überschritten, davon 112-mal strafbar. Strafen gab es jedoch nie.
Was ist schiefgelaufen?
Der größte Fehler war, dass die No-Bail-out-Klausel, nach der die Gläubiger von Pleitestaaten nicht verschont werden sollen, verletzt wurde. Die EU hat es versäumt, eine Insolvenzordnung für Staaten zu etablieren. So hatten die Investoren die Erwartung, dass man sie im Krisenfalle unterstützen würde, und es floss viel zu viel Geld nach Südeuropa. Mit der Folge, dass dort inflationäre Kreditblasen entstanden sind. Das hat die Länder überteuert und ihre Wettbewerbsfähigkeit zerstört.
Eine Insolvenzordnung für Staaten. Ist es dafür jetzt zu spät?
Es ist nie zu spät. Man muss diese Reformen machen. So könnte man die Eurozone zurück zur Stabilität führen.
Aber was machen wir dann mit den Ländern in Südeuropa?
Es gibt nur vier Möglichkeiten und keine fünfte. Die erste: Der Norden finanziert den Süden dauerhaft über die Einrichtung einer Fiskalunion mit einem gemeinsamen Finanzminister. Das wird sehr, sehr teuer. Zweite Option: Südeuropa wird gezwungen, eine Austeritätspolitik zu machen, bei der die Preise und Löhne fallen. Das würde freilich die Gesellschaft an den Rand des Zerbrechens bringen. Dritter Weg: Nordeuropa wird inflationiert. Der Süden ist vorausgeeilt, der Norden folgt, um den Süden wieder wettbewerbsfähig zu machen. Das trifft die Vermögen der Sparer, die dann ungerechtfertigterweise enteignet werden. Vierte Option: Wir lassen Austritte zu - von Ländern, die im Euro nicht wettbewerbsfähig werden. Die können dann durch eine Abwertung wieder wettbewerbsfähig werden. Nach einigen Jahren dürfen sie sich von Neuem für den Euro anstellen. Wir haben den ersten Weg gewählt. Wir marschieren in eine Transfer- und Haftungsunion. Mit Riesenschritten.
Ist ein Euro-Austritt technisch überhaupt möglich?
Ja natürlich, wenn man eintreten kann, kann man auch austreten.
Warum wird es nicht angedacht? Man hat alles versucht, um Griechenland im Euro zu halten.
Es ist schon angedacht worden. Der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble wollte im Sommer 2015 diesen Weg gehen. 15 Finanzminister stimmten ihm zu. Das ist an der Intervention des französischen Präsidenten Francois Hollande bei Angela Merkel gescheitert.
Wenn Hollande weg ist, könnte Griechenland aus dem Euro geworfen werden?
Schäuble wollte Athen nicht rauswerfen, sondern den freiwilligen Austritt zulassen. Das ist ein feiner Unterschied. Sollte nach Hollande ein Emmanuel Macron an die Macht kommen, wird er dieselbe Politik verfolgen wie sein Vorgänger. Frankreich hat ein starkes Interesse unabhängig vom Präsidenten, weil die französischen Banken sehr stark involviert sind. Und weil Frankreich ein großes Interesse an der Zusammenfassung der mediterranen Länder in einer stärker verstaatlichten Eurozone hat.
Aber sollte der Weg in Richtung einer Transferunion nicht auf massiven Widerstand aus Ländern wie Deutschland oder Österreich stoßen?
Richtig. Aber vorläufig spüren die Leute die Lasten nicht. Die spüren sie erst, wenn sie an ihre Rente ran wollen, wenn die Staaten die vielen Bürgschaften und Haftungsversprechen erfüllen müssen. Dann wird es eine sehr starke Gegenbewegung geben. Diese Entwicklung in Richtung einer Haftungsunion ist ungefähr das, was die Vereinigten Staaten von Amerika unter dem ersten Finanzminister, Alexander Hamilton, 1791 begonnen haben. Diese Haftungsunion hat auch zu einer übermäßigen Kreditaufnahme der Einzelstaaten geführt. Mit der Folge, dass es zu einer Blase kam. Die platzte 1837. Bis 1842 sind neun von 29 Staaten in Konkurs gegangen. Nichts als Hass und Streit war entstanden durch diese Vergemeinschaftungsaktion.
Aber hat nicht gerade Deutschland alles unternommen, um die Vergemeinschaftung aufzuhalten? Eurobonds gibt es ja bis heute keine.
Deutschland hat versucht, was es konnte. Aber trotzdem haben wir Haftungsversprechen zwischen den Regierungen. Wir haben den Rettungsschirm ESFS, wir haben den EFSM, wir haben den ESM. Wir haben die Kaufprogramme für Staatspapiere der EZB, vor allem auch das Versprechen, unbegrenzt Staatspapiere von Krisenländern zu kaufen, wie es Mario Draghi 2012 abgegeben hat. Und wir haben Überziehungskredite im Eurosystem, die sogenannten Target-Salden. All das führt bereits in einem massiven Umfang zu einer Vergemeinschaftung der Staatsschulden der Länder der Eurozone. Ohne dass das Wort Eurobonds formal benutzt wird.
Ist diese Entwicklung noch irgendwie aufzuhalten?
Ja, natürlich könnte man das aufhalten. Man könnte sich dem widersetzen. Das würde dann zu einer Krise der Eurozone führen. Die dann auch eine Neuverhandlung der Verträge beinhalten würde. Und ich glaube, wir müssen den Euro jetzt neu verhandeln. Solange das Eisen heiß ist. Und solange mit Großbritannien verhandelt wird. Es braucht harte Budgetbeschränkungen, die verhindern, dass Länder über ihre Verhältnisse leben. Jeder muss mit seinem eigenen Geld auskommen. Man darf es sich nicht wie heute bei Bedarf drucken.
Interview: Nikolaus Jilch
Nachzulesen bei www.diepresse.com