Die Welt, 17.10.2016, S. 10
Hans-Werner Sinn ist offiziell Rentner, aber das lässt er sich nicht anmerken. Im April hat er zwar die Leitung des Ifo-Instituts an Clemens Fuest übergeben, aber seitdem ist Sinn viel unterwegs und hält Vorträge. „Ich kann mich kaum retten vor Anfragen“, erzählt er am Telefon.
Nebenbei hat Deutschlands bekanntester Ökonom in den vergangenen Monaten ein Buch geschrieben: In „Der Schwarze Juni“ skizziert Sinn ein umfangreiches Reformprogramm für Europa. Die Idee zu dem Buch sei spontan entstanden, schreibt Sinn im Vorwort, das Votum der Briten für den EU-Austritt im Juni habe ihn geschockt, genauso wie die zwei Tage später gefallene Entscheidung der Bundesverfassungsrichter, das Anleihenkaufprogramm der EZB zu erlauben.
Dafür, dass Ihr Buch relativ spontan entstanden ist, haben Sie ganz schön viel geschrieben.
Ich habe mich auch gewundert, wie dick es geworden ist. Zuerst gab es eine Rohfassung, die habe ich überarbeitet, und dann fiel mir immer mehr und immer mehr ein. Die gegenwärtige Lage des Euro und der EU bedrückt mich sehr, und das hat mich angetrieben.
Ist das Projekt Euro gescheitert?
Ja, der Euro ist grandios gescheitert. Er sollte ein Friedensprojekt werden, aber stattdessen hat er die Länder Europas gegeneinander aufgebracht. Er hat in Südeuropa eine inflationäre Kreditblase geschaffen, die in der Finanzkrise geplatzt ist und diese Volkswirtschaften in Schieflage gebracht hat. Dort herrscht heute Massenarbeitslosigkeit, und die Menschen sind enttäuscht vom Euro. Die Gläubiger im Norden ärgern sich derweil, dass sie den Süden mit Rettungsschirmen und Transfers unterstützen müssen. Im Süden wie im Norden sorgt der Euro für Frust.
Und für Spannungen zwischen den Ländern.
Durch die Rettungsschirme wurden private Kreditforderungen auf staatliche Gläubiger übertragen. Dadurch ist viel Streit entstanden. Ohne die Schirme hätten sich Tsipras und Varoufakis im vergangenen Jahr mit irgendwelchen Banken streiten müssen. Mit den Rettungsaktionen des Jahres 2010 wurden aber Merkel und Schäuble die Hauptgläubiger von Griechenland, und die kriegen jetzt den Frust ab. Es gib ein gutes Sprichwort: Leihe niemals Geld an einen Freund, denn sonst ist er dein Freund gewesen.
Haben Sie schon mal einem Freund Geld geliehen?
Nein, aber ich würde ihn anders unterstützen, wenn er in Not ist.
Hätte Deutschland Griechenland Geld schenken sollen?
Im Zweifel: ja. Das Geld, das seit Ausbruch der Krise nach Griechenland geflossen ist, sehen wir ohnehin nicht mehr wieder. Wir hätten Griechenland in der Notlage besser freiwillig kleinere Beträge geschenkt, als einem System zuzustimmen, in dem ein Rechtsanspruch auf Kredithilfen begründet wird. Ich denke hier insbesondere an die Kredite, die sich jedes Land aus dem gemeinsamen Kassenautomaten bei der EZB ziehen kann, die sogenannten Target-Kredite. Doch auch die fiskalischen Kredite des ESM sind hier zu nennen. Solche Automatismen laden doch geradezu zum Missbrauch ein. Und wer diese Mechanismen ausbremsen will wie Wolfgang Schäuble, der gilt sofort als Bösewicht, weil er nicht genug Rettungskredit zur Verfügung stellt.
Das Bild, das Sie zeichnen, sieht nicht schön aus. Was glauben Sie, wird es die Euro-Zone in zehn Jahren noch geben?
Ich glaube nicht, dass es die Euro-Zone in ihrer heutigen Form in zehn Jahren noch geben wird. Der Euro als solcher wird nicht untergehen, aber einzelne Länder werden austreten, und das ist richtig so.
Wird Italien noch Teil des Euro sein?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Italien dauerhaft Teil des Euro bleibt, fällt von Jahr zu Jahr. Das Land kommt mit dem Euro nicht zurecht. Die italienische Volkswirtschaft ist nicht wettbewerbsfähig und hat in den vergangenen Jahren keine messbaren Anstrengungen unternommen, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das Preisniveau war bereits vor der Krise zu hoch und hat sich seitdem kein bisschen verringert. Seit 1995 ist Italien als Produktionsstandort gegenüber Deutschland um 42 Prozent teurer geworden. Die Wirtschaft muss billiger werden, aber es passiert nichts. In Italien wird viel geredet, aber nicht gehandelt.
Auch Joseph Stiglitz sagte der „Welt“ jüngst im Interview, dass er Italien langfristig nicht mehr in der Euro-Zone sieht.
Ich teile seine Skepsis. Ich finde zwar nicht, dass Italien austreten sollte, ganz im Gegenteil. Aber damit es bleiben kann, bräuchten wir andere Voraussetzungen, als wir sie gegenwärtig haben. Das italienische Establishment ist zunehmend skeptisch, was den Euro angeht. Berlusconi hatte schon im Jahr 2011 Geheimverhandlungen für einen Euro-Austritt Italiens gestartet, weil er und andere Vertreter der Wirtschaft eigentlich keine Alternative mehr sehen. Die Industrie produziert immer noch 22 Prozent weniger als vor der Krise, und es gibt immer mehr Pleiten. Die faulen Kredite der Banken sind nach einer Rechnung des IWF mittlerweile auf 80 Prozent des Eigenkapitals gestiegen, und die Jugendarbeitslosigkeit liegt knapp unter 40 Prozent. Solch eine katastrophale Situation kann ein Land nicht lange aushalten. Ich frage mich wirklich, wie lange Italien noch im Euro durchhält.
In der italienischen Bevölkerung war die EU in der Vergangenheit sehr angesehen, aber auch das gilt offenbar nicht mehr.
Nein, die Hälfte der Italiener will aus dem Euro austreten, das ist der höchste Wert aller europäischen Länder, in denen diese Frage in letzter Zeit gestellt wurde. Egal, ob man sich die Eliten oder die Wähler anschaut, die Skepsis gegenüber dem Euro wird immer größer.
Die Banken in Italien leiden unter faulen Krediten. Aber auch deutsche Banken plagen Probleme, allen voran die Deutsche Bank: Sie verdient weit weniger als früher, zudem drohen ihr hohe Strafen aus den USA. Müssen wir uns um die größte Bank hierzulande Sorgen machen?
Die Deutsche Bank ist zu groß für einen Bankrott. Eine Pleite der Deutschen Bank wäre ein Schock für das Weltfinanzsystem. Die Bank ist einer größten Derivatehändler der Welt, wenn nicht der größte überhaupt. Bräche der Derivatehandel zusammen, würde das auch viele US-amerikanische Banken belasten. Deshalb werden die USA auch keine Strafe verhängen, die das Unternehmen vernichtet.
In der deutschen Wirtschaft kursieren trotzdem Rettungsideen für die Bank. Wären solche Initiativen sinnvoll?
Es ist vernünftig, wenn die große Bank durch die Wirtschaft gestützt wird – auch wenn solch ein Gigant überhaupt nicht hätte entstehen dürfen. Der Staat sollte sich indes bei den Rettungsaktionen zurückhalten. Das Geld muss von privaten Investoren und den bestehenden Eigentümern kommen, gegebenenfalls auch von nachrangigen Gläubigern.
Ist die Bank zu groß?
Ja. Statt zuzulassen, dass sich eine solch riesige Deutsche Bank entwickelt, wäre es besser gewesen, wir hätten mehrere mittelgroße Geschäftsbanken an ihrer Stelle gehabt, die nicht systemrelevant sind und die auch pleitegehen könnten, ohne dass man gleich den Untergang des Finanzsystems riskiert.
Aus der Wirtschaft kommt häufig das Argument, Deutschland brauche eine große Bank von Weltrang, um Unternehmen ins Ausland begleiten zu können.
Die Unternehmen brauchen natürlich Institute, die ausreichend groß für internationale Geschäfte sind. Aber dafür hätten sehr viel kleinere Banken auch gereicht.
Fordern Sie etwa die Aufspaltung der Deutschen Bank?
Nein, das würde die Märkte ebenfalls in Aufruhr versetzen. Man hätte die Deutsche Bank einfach nicht so groß werden lassen dürfen. Durch ihre Größe nimmt die Deutsche Bank die Steuerzahler in Geiselhaft. Je größer eine Bank ist, desto eher kann sie dieses Geschäft spielen. Die Eigentümer bekommen hohe Dividenden, wenn die Geschäfte gut laufen, und wenn es den Instituten schlecht geht, muss die Allgemeinheit zahlen. Aus dieser Asymmetrie entstehen die gewaltigen Gewinne der Banken. Noch vor zehn Jahren wollte die Deutsche Bank 25 Prozent Eigenkapitalrendite erreichen. Das lässt sich mit dem normalen Bankgeschäft gar nicht erreichen, sondern nur, wenn man anfängt zu zocken und andere auf den Verlusten sitzen lässt.
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