Euro am Sonntag, 02.07.2016, S. 8-10
€uro am Sonntag: Herr Professor Sinn, die Briten haben sich für den Austritt aus der EU entschieden, den sogenannten Brexit. Kann man dessen wirtschaftliche Folgen schon absehen?
Hans-Werner Sinn: Die sind relativ klar. Auf der einen Seite könnte die City of London ihre Funktion als finanzielles Drehkreuz für Europa verlieren. Das ruft eine Kapitalflucht aus England hervor. Auf der anderen Seite kommt es genau wegen dieser Kapitalflucht zu einer Abwertung des Britischen Pfund, was die Exportwirtschaft stärkt. Das belebt etwa die Automobilindustrie, die in England sowieso stark im Kommen ist.
Die positiven gleichen die negativen Effekte des Brexit also aus?
Nein. Langfristig ist es von Nachteil, wenn die Handelsbeziehungen zu Europa schwieriger werden. Kurzfristig könnten die Briten durch die Abwertung des Pfundes aber mit einem blauen Auge davonkommen.
Vieles hängt doch davon ab, wie sich Großbritannien und die EU trennen. Glauben Sie, die EU arbeitet auf eine schmerzhafte Trennung hin, um Nachahmer abzuschrecken?
Da wurde im Vorfeld viel geredet, um die Brexit-Befürworter zu entmutigen. Aber ich erwarte, dass die wirtschaftlichen Verbindungen weiter eng bleiben. Die EU will ja nach wie vor Handel mit den Briten betreiben.
Wie hat der Brexit-Entscheid die EU verändert?
Er zeigt, dass die EU deutlich an Attraktivität verloren hat. Es geht vieles schief in Europa. Meiner Meinung nach ist vor allem die Flüchtlingsproblematik für den Austritt der Briten verantwortlich.
Eingeleitet wurde das Referendum doch schon lange bevor Flüchtlinge zum politischen Thema wurden.
Der Auslöser waren die Probleme in der Eurozone, die auch die EU massiv verändert haben. Die Briten haben Angst, wie Deutschland in eine Haftungsspirale hineingezogen zu werden. Die großen politischen Mehrheiten macht man aber mit dem Thema Flüchtlinge.
Die Flüchtlingszahlen haben zuletzt abgenommen. Ist das Thema überhaupt noch so virulent wie im Herbst 2015?
O ja, es war das überragende Thema beim Brexit-Referendum. Die Flüchtlingszahlen sind zwar direkt nach der Grenzschließung in Mazedonien im Februar gesunken, doch die EU ist noch immer nicht in der Lage, die Flüchtlingsströme aus Afrika zu verhindern.
Kann sie das? Wie geht das ihrer Meinung nach?
Die Verhältnisse müssen vor Ort stabilisiert werden, dabei muss die EU die Türkei unterstützten. Die Welt kann nur funktionieren, wenn Eigentumsrechte akzeptiert werden und der Inhaber dieser Rechte - in diesem Fall der Staat als Organ der Bürger - entscheidet, wer kommen darf und wer nicht.
Das macht Deutschland doch, oder? Es gewährt Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz.
Nein, Deutschland hat wenig entschieden. Es kamen Hunderttausende ohne jegliche Registrierung über die Grenzen. Die Genfer Flüchtlingskonvention, das Dublin-III-Abkommen, das Grundgesetz und das deutsche Asylgesetz sehen nur Schutz bei individueller Verfolgung vor und gewähren kein Recht auf Aufnahme, wenn man über ein sicheres Drittland einreist. Was die Bundesrepublik toleriert hat, bewegt sich außerhalb des Rechts. Es ist ein großes Defizit der deutschen Regierung, dass sie nicht vorher eingegriffen hat. Wir müssen außerhalb der europäischen Grenzen Auffanglager aufbauen und ähnlich wie die Schweiz verlangen, dass die Asylanträge vom Ausland aus gestellt werden.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat aus Protest Gelder der EU zurückgewiesen. Die Begründung: Seit dem Abkommen mit der Türkei sperrt die EU Flüchtlinge systematisch aus und hält sie unter unzumutbaren Umständen in Lagern fest. Betreibt die EU nicht schon jetzt eine Abschottungspolitik?
Die EU schottet sich mehr ab, und das ist gut so. Es kamen ja vornehmlich Wirtschaftsmigranten. Es ist eine politische Entscheidung, Grenzen festzulegen und nicht Sache einer privaten Organisation, das zu unterlaufen. Die Ärzte ohne Grenzen fischen die Flüchtlinge an der Küste auf und versuchen sie gegen den Willen der Türkei und Griechenlands nach Griechenland zu bringen. Das ist verantwortungslos und kann nicht toleriert werden, weil die Organisation den Unterhalt der Leute ja nicht bezahlt, sondern das Thema den Steuerzahlern überlässt. Es ist keine Lösung, immer mehr Menschen unkontrolliert nach Europa kommen zu lassen. Europa muss sich selbst aussuchen können, wen es hereinlässt - sei es aus wirtschaftlichen oder humanitären Erwägungen.
Mehr als eine Million Menschen sind aber schon hier. Wie hilft man denen?
Die müssen natürlich schnellstmöglich integriert werden. Das geht nur, indem man allen sofort eine Arbeitserlaubnis gibt. In einem Job lernen sie die Sprache viel schneller und können wenigstens teilweise für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Das hilft allen.
Manche Ökonomen sehen Migration als Chance, etwa um die Rentensysteme zu entlasten. Teilen Sie diese Ansicht?
Die meisten Flüchtlinge sind jung, das ist im Grunde positiv. Aber ihre Qualifikation ist gering. Das lässt erwarten, dass sie unterdurchschnittliche Einkommen erwirtschaften und damit unterdurchschnittliche Steuern und Beiträge zahlen - weniger, als zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen benötigt wird, die sie beziehen. Wie die beiden Effekte ineinanderspielen, haben bisher nur zwei Studien errechnet. Die eine erwartet im Schnitt Kosten von 400.000 Euro pro Flüchtling, die andere 100.000 bis 400.000 Euro.
Selbst wenn Kosten anfallen: Müssen wir diesen Menschen nicht trotzdem allein aus humanitären Gründen helfen?
Wer politisch verfolgt wird, genießt nach deutschem Recht Asyl und muss geschützt werden. Das waren im vergangenen Jahr aber nur 0,7 Prozent der abgeschlossenen Asylanträge. 48 Prozent wurden dennoch aus anderen Gründen akzeptiert, die sich nicht mehr mit dem deutschen Recht decken.
Diese 48 Prozent kamen aber alle aus Bürgerkriegsländern wie Syrien.
Viele verweisen deshalb auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Aber die legt gar nicht fest, nach welchen Regeln Flüchtlinge zu akzeptieren sind. Man kann sie nicht so interpretieren, dass alle Menschen aus Bürgerkriegsländern Bleiberecht bei uns haben. Diese Entscheidung ist durch die Unfähigkeit zustande gekommen, dem Massenzustrom irgendwie administrativ zu begegnen.
Nicht nur in Großbritannien, sondern in weiten Teilen Europas haben zuletzt der Nationalismus und der Populismus zugenommen. Wie sehr ist die immer noch unsichere und wacklige wirtschaftliche Lage dafür verantwortlich?
Wenn die Wirtschaft eines Landes wächst, sind alle glücklich. Wenn es aber Schwierigkeiten gibt, brechen Konflikte aus. Das sieht man zum Beispiel auch in Spanien, wo die Not sehr groß ist. Die Arbeitslosigkeit liegt dort bei gut 20 Prozent, die Industrieproduktion ein Viertel unter dem Niveau vor der Krise. Auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen als großer Nettozahler innerhalb Spaniens sind ein Ausdruck dafür, wie stark es knirscht.
Ist das alles eine Spätfolge der Finanzkrise und der Schuldenkrise in Europa?
Europa hat keine Schuldenkrise, sondern vor allem eine Wettbewerbskrise. Der Euro hat die Zinsen in Südeuropa gesenkt, was eine inflationäre Kreditblase ausgelöst hat. Die Folge ist, dass die Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. Sie müssten nun real abwerten, indem sie ihre Preise wieder senken. Das ist aber kaum machbar, weil es viele Schuldner in den Konkurs treiben würde. Deshalb finanzieren sich diese Länder über Schulden - und die EZB hält die Zinsen niedrig, um das möglich zu machen.
Sie nennen die EZB eine "entfesselte Zentralbank".
Das ist sie auch. Weil die EZB die Zinsen auf null gesetzt hat und die Staatspapiere kostenlos versichert, kann sich Südeuropa weiter verschulden und Reformen verzögern. Das geht einfach nicht. Außerdem haben Sparer durch die EZB-Politik Verluste erlitten!
Dafür können Sie billig Kredite für Autos oder Häuser aufnehmen. Entschädigt das nicht für die Sparverluste?
Wer sich verschuldet, ist derzeit tatsächlich auf der Gewinnerseite. Die Deutschen verschulden sich aber nicht, sondern sind global gesehen der größte Nettokreditgeber der Welt nach Japan. Weil wir durch Warenexporte große Leistungsbilanzüberschüsse haben, bauen wir große Forderungen gegenüber anderen Ländern auf. Deshalb sind wir die Verlierer der Niedrigzinspolitik. Wir haben in den Jahren 2008 bis 2015 insgesamt 326 Milliarden Euro weniger Zins- und Kapitaleinkommen im Ausland erzielt, als wenn wir noch die Ertragsrate des Jahres 2007 hätten.
Den Verlust habe ich persönlich nicht wirklich gespürt.
Dann haben Sie keine Sparguthaben oder Lebensversicherungspolicen. Aber richtig: Dass sie ärmer werden, spüren die Leute erst, wenn sie ihre Ersparnisse zurückhaben wollen, um davon zu leben. Die Babyboomer in Deutschland sind 50 und gehen in 15 Jahren in Rente. Dann braucht man eigentlich einen Rückfluss an Ressourcen aus dem Ausland, um das zu finanzieren. Der wird aber mickrig ausfallen.
Sie gelten als einer der größten Kritiker der EZB. Vor kurzem hat sogar das Bundesverfassungsgericht das Anleihekaufprogramm gebilligt, mit dem die EZB 2012 den Euro gerettet hat. Mal ehrlich: Ist ihr damals etwas anderes übrig geblieben, als einzugreifen?
Sogar der Europäische Gerichtshof hat argumentiert, dass es nicht Aufgabe der EZB war, damals den Euroraum zu stabilisieren. Aber gut: Die EZB hat es getan und damit eine Finanzkrise vermieden. Dadurch hat sie aber eine viel größere Gefahr hervorgerufen.
Welche denn?
Durch die Kreditgarantien sind die Zinsen gesunken, das provoziert eine Schuldenlawine, die nicht mehr beherrschbar ist. Das ist ungefähr das, was in Amerika in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts passiert ist, nachdem der US-Gründervater Alexander Hamilton 1791 die Schulden der Einzelstaaten sozialisiert hatte. Danach haben sich die Staaten sehr stark verschuldet, der Kreditboom entwickelte sich zur Blase. Von 1837 bis 1842 sind neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien formal in Konkurs gegangen. Dabei ist nichts als Streit und Hass zwischen den US-Staaten entstanden. Das entlud sich dann im Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Die Vergemeinschaftung von Schulden ist extrem gefährlich.
Vorhin sagten Sie, EZB-Chef Mario Draghi ermögliche das Schuldenmachen durch Nullzinsen. Was müsste er Ihrer Meinung nach anders machen?
Zur Geldpolitik zurückkehren und die Zinsen anheben.
Geht das so einfach?
Natürlich nicht. Aber je länger man damit wartet, desto schwieriger wird es. Das ist ähnlich wie den Entzug eines Drogensüchtigen zu organisieren. Allerdings werden die Zinsen in Europa niedrig bleiben, solange die überschuldeten Südländer im EZB-Rat das Sagen haben. Würden sie steigen, würde so mancher Staat in Schwierigkeiten kommen oder sogar in Konkurs gehen. Und das will man verhindern. Auf die Dauer ist das aber keine Lösung.
Die niedrigen Zinsen haben starke Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Die Aktienkurse sind trotz des Brexit-Crashs hoch, die Renditen für Anleihen sehr niedrig. Zuletzt zahlten Anleger erstmals dafür, dass sie Deutschland zehn Jahre lang Geld leihen. Wird das früher Undenkbare zum Dauerzustand?
Wegen der Nullzinsen der EZB werden die Zinsen für europäische Anleihen lange sehr tief bleiben. Das ist auch für die Wirtschaft ein Problem.
Weshalb? Die Theorie sagt: Billige Kredite helfen der Wirtschaft.
Früher gab es das, was der Ökonom Joseph Schumpeter "schöpferische Zerstörung" nannte. Blasen platzten irgendwann, Firmen machten pleite, und auf deren Ruinen entstanden neue Unternehmen. Das ist zwar im Einzelfall hart, aber es ist die Quelle des Fortschritts. Lässt man diesen Prozess nicht zu, führt das auf Dauer zu einer sklerotischen Entwicklung und Stagnation. Das ist in Europa im Moment der Fall.
Wie löst man das Problem Ihrer Ansicht nach? Was raten Sie der EZB?
Die EZB muss aufhören, die Staaten Südeuropas mit ihren Zombiebanken zu stützen. Wir brauchen eine Bereinigung der Märkte um ineffiziente Unternehmen und müssen die Investoren wieder in die Haftung nehmen, damit sie mit dem Zocken aufhören. Die Entscheidung der Investoren, wo sie ihr Geld anlegen, schafft im Kapitalismus Dynamik und Wohlstand, wenn sie nicht durch die Abwälzung der Haftung auf Dritte verzerrt wird. Wenn sie die Konsequenzen einer Fehlentscheidung wegen der lockeren Geldpolitik oder staatlicher Rettungsschirme nicht tragen müssen, achten die Anleger nicht mehr darauf, wo sie ihr Geld investieren. Es wird leichtfertig in ineffiziente Geschäftsmodelle gesteckt und damit verbrannt, statt für Wachstum zu sorgen. So kann das System nicht funktionieren.
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