Focus Money online, 17. April 2017
FOCUS Online: Die deutsche Wirtschaft ist seit Jahren auf Wachstumskurs. Wird sich dieser Aufwärtstrend in den nächsten Jahren fortsetzen?
Hans-Werner Sinn: Nichts setzt sich ewig fort. Für dieses und das nächste Jahr sind die Aussichten zwar positiv, wie die Gemeinschaftsdiagnose der Institute zeigt. Was aber mittel- bis langfristig passieren wird, lässt sich schwer vorhersagen. Man kann nicht ewig einen Boom haben.
FOCUS Online: Welche Probleme könnten die Wirtschaft in Deutschland bremsen?
Sinn: Die zwei großen Probleme sind der Brexit und die Handelspolitik der USA. Davon betroffen sind der wichtigste und der drittwichtigste deutsche Exportmarkt. Wenn sich die EU mit ihrer harten Linie gegenüber Großbritannien durchsetzt, bedeutet das ja nicht nur, dass die britischen Exporte nach Europa behindert werden, sondern auch die EU-Exporte auf die Insel. Und dann gibt es noch Donald Trump, der anderen Ländern mit einer Importsteuer droht. Das sind zwei hohe Risikofaktoren, die klar absehbar sind.
FOCUS Online: Warum ist der Brexit so schlecht für die deutsche Wirtschaft?
Sinn: In den 60er Jahren war es ein erklärtes Ziel der deutschen Politik, Großbritannien als Gegengewicht zu Frankreich in die EU zu holen. Dieses Gleichgewicht, das mit dem britischen EU-Beitritt im Jahr 1973 hergestellt wurde, ist nun zerstört. Länder, die weniger am Freihandel als an Staatseingriffen interessiert sind, also vor allem die südeuropäischen Länder inklusive Frankreich, haben jetzt die Oberhand. Sie drohen damit, EU und Euro in eine Richtung zu entwickeln, die den deutschen Exporten schadet.
FOCUS Online: Warum sehen Sie den Brexit so negativ? Könnte er nicht auch für eine Wirtschaftsbelebung sorgen, weil er den Märkten wieder mehr Freiheiten gibt?
Sinn: Ich habe Angst vor den Handelsschranken, weil sie alle treffen. Sie haben aber Recht. Eine Belebung der britischen Wirtschaft kommt vielleicht durch eine Abwertung des britischen Pfunds zustande. Das wäre jedoch negativ für die Konjunktur in den EU-Ländern.
FOCUS Online: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz macht die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland zum Wahlkampfthema. Hat die deutsche Gesellschaft ein Gerechtigkeitsproblem?
Sinn: Ich halte das für übertrieben. Seit den Schröderschen Reformen vor gut einem Jahrzehnt hat sich die Ungleichheit der Nettoeinkommen in Deutschland nicht vergrößert. Das liegt vor allem daran, dass diese Reformen vielen Menschen ein Arbeitseinkommen gebracht haben, die zuvor arbeitslos waren. Im Übrigen reduziert kein anderes großes Industrieland die Ungleichheit der Markteinkommen durch fiskalische Eingriffe des Staates so stark wie Deutschland. Das größte Sozialproblem sind die Armuts-Migranten, die nach Deutschland kommen. Sie werden in die deutschen Statistiken als armutsgefährdet mit eingerechnet, doch erhalten sie hier ohne Arbeit mehr Sozialeinkommen, als sie zu Hause für harte Arbeit an Lohn erhalten. Schon aus dem Grunde ist die Debatte ziemlich abstrus.
FOCUS Online: Schulz suggeriert, die Einkommensschere zwischen den niedrigsten und höchsten Einkommen hätte sich in den letzten Jahrzehnten vergrößert.
Sinn: Nein. Zwar gibt es eine solche Schere bei den Brutto-Einkommen, aber nicht bei den Netto-Einkommen. Und nur auf die Netto-Einkommen nach staatlicher Umverteilung kommt es an. Da liegt er ziemlich daneben, was die Fakten betrifft.
FOCUS Online: Der Bundestagswahlkampf wird auch ein Rentenwahlkampf. Was muss hier als erstes getan werden?
Sinn: Die Rentenreform der Regierung – die Rente mit 63 - war kontraproduktiv, da sie die Reformen der Regierung Schröder zurückdreht. Wegen der alternden Bevölkerung müssen wir das Rentenalter anheben und nicht herunterfahren. Es ist außerordentlich leichtfertig und nicht zu vertreten, dass das Rentenalter für größere Bevölkerungsgruppen jetzt wieder gesenkt wurde.
FOCUS Online: War auch die Mütter-Rente kontraproduktiv?
Sinn: Die Mütterrente halte ich für sehr sinnvoll. Vom Grundsatz her, nämlich für neue Mütter, ist sie ja vom Verfassungsgericht erzwungen worden. Es ging jetzt nur darum, dass ältere Mütter nicht gegenüber jüngeren Müttern benachteiligt werden, und das finde ich richtig.
FOCUS Online: Aber geht das nicht wieder zu Lasten der jüngeren Generation, die diese Renten finanzieren muss?
Sinn: Ja, aber die jüngere Generation gibt das Geld an ihre Mütter. Ohne die Mütter wäre sie gar nicht da. Wenn eine Gesellschaft zeigt, dass sie die Mütter achtet und finanziell ordentlich behandelt, dann ist das auch vertrauensbildend für junge Frauen, die sich überlegen, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
FOCUS Online: Was halten Sie von dem Plan von Andrea Nahles, das Rentenniveau bis 2045 nicht unter 46 Prozent absinken zu lassen?
Sinn: Das ist irreales Wunschdenken. In weniger als 15 Jahren haben wir ein großes demografisches Problem, wenn die Babyboomer-Generation, die jetzt Anfang 50 ist, in Rente gehen will. Dann wird es so extrem eng im Staatsbudget, dass sich solche Wünsche als Utopien erweisen werden.
FOCUS Online: Was muss stattdessen passieren?
Sinn: Die Politik muss das Rentenalter dramatisch erhöhen und nicht falsche Erwartungen wecken. Sie sollte auch Anreize geben, dass die Menschen wieder mehr Kinder bekommen. Nichts zerstört die Gesellschaft mehr, als wenn man Lebensmodelle ohne Kinder propagiert, denn Gesellschaften ohne Kinder sterben aus.
FOCUS Online: Sollten die Bürger auch steuerlich entlastet werden?
Sinn: Die Einkommensteuer sollte auf Räder gestellt werden, damit eine Einkommenssteigerung, die nur durch Wirtschaftswachstum und Inflation zu Stande gekommen ist, nicht zu höheren Steuertarifen führt. Sämtliche Grenzen im Steuertarif sollten im Umfang des normalen Einkommenswachstums laufend nach oben geschoben werden, damit die staatlichen Einnahmen nur so stark zunehmen wie die verdienten Einkommen. Derzeit wachsen sie schneller, und der Staatsanteil wird immer höher. Es ist nicht einzusehen, dass der Staat vom Wachstum stärker profitiert als seine Bürger.
FOCUS Online: Bedeutet das auch niedrigere Steuersätze?
Sinn: Niedrigere Steuersätze als heute, ja, denn die hohen Sätze von heute sind das Ergebnis der heimlichen Progression durch Inflation und Wirtschaftswachstum. Stellt man den Tarif auf Räder, steigen die Steuersätze nicht mehr.
Das Interview führte Thomas Müncher.
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