Forschung & Lehre, 01.04.2016, S. 304-306
Der diesjährige Hochschullehrer des Jahres gehört zu den Meinungsführern im politischen Diskurs. Der Preisträger steht für unparteiliche, wissenschaftliche Expertise. Als meinungsfreudiger Freigeist und unabhängiger Mahner stößt er Debatten an und belebt sie. Ein Interview.
Forschung & Lehre: Durch die Flüchtlingskrise wird unser bereits angeschlagenes Verständnis für ein gemeinsames Europa weiter erschüttert. Sie schlagen eine „Verteidigungsgemeinschaft“ für Europa vor. Was stellen Sie sich unter dieser Gemeinschaft vor, und was soll sie bewirken?
Hans-Werner Sinn: Dass die 28 Staaten der EU 25 Armeen mit separaten Waffensystemen und Generalstäben unterhalten, ist ein Anachronismus. Seit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954 ist Europa falsch gestrickt. Das, was in den USA und der Schweiz am Anfang stand, soll am Ende kommen, aber es wird nie kommen, wenn wir schon vorher die Kassen vergemeinschaften. Ein französischer Präsident nach dem anderen hat erklärt, dass er das Fernziel der Vereinigten Staaten von Europa nicht akzeptiert. Die deutschen Vorleistungen werden deshalb nicht honoriert werden. Nachdem Frankreichs Einflussgebiete im Süden mit deutschem Geld gerettet wurden und nun von Präsident Hollande und Ministerpräsident Renzi fast schon ultimativ immer mehr Geld für eine gemeinsame Einlagensicherung, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung und ein gemeinsames Budget verlangt wird, ist es an der Zeit, die gemeinsame Armee als Gegenleistung einzufordern. Ich würde keinen Cent mehr geben, wenn sich Frankreich nicht endlich bewegt.
F&L: Sie stellen Berechnungen zu Kosten und Chancen der Migration in Deutschland auf und kommen zu dem Ergebnis, dass uns „Migranten teuer zu stehen kommen werden“. Was antworten Sie Demographie-Experten, die für Einwanderung werben?
Hans-Werner Sinn: Wegen unserer verzerrten Altersstruktur brauchen wir in der Tat Einwanderer, aber sie müssen qualifiziert sein, damit sie den Staat mitfinanzieren, statt ihm auf der Tasche zu liegen. Deswegen brauchen wir ein Punktesystem wie in Kanada. Die Aufnahme von Asylbewerbern ist eine humanitäre Aufgabe, die mit solchen wirtschaftlichen Erwägungen eigentlich nichts zu tun hat. Einige Politiker, so auch die Kanzlerin, argumentieren jedoch, dass die Asylbewerber Deutschland nützen, um ihre Politik der offenen Grenzen zu verteidigen. Diese Position ist ökonomisch nicht gut begründet. Es gibt Arbeitsmarkteffekte und Effekte über das Staatsbudget. Was erstere betrifft, so stimmt es zwar, dass die Migranten, wenn sie arbeiten, das Sozialprodukt erhöhen, doch in der Marktwirtschaft werden die Löhne durch das Grenzprodukt der Arbeit gebildet. Das heißt, dass die Migranten den Zuwachs an Sozialprodukt, den sie erzeugen, selbst als Lohn bekommen. Für die schon anwesende Bevölkerung ist das per Saldo kein Gewinn. Nur die Käufer der Leistungen der Migranten, also die Firmen und auch besser verdienende Haushalte, gewinnen. Währenddessen verlieren diejenigen, die mit den Migranten konkurrieren. Es kommt hinzu, dass die Effekte über das Staatsbudget negativ sind. Schon die bisherigen Migranten sind im Mittel unterdurchschnittlich qualifiziert und sind deshalb, selbst wenn sie arbeiten, per Saldo Nettoempfänger staatlicher Ressourcen. Sie zahlen zwar Steuern und Beiträge, doch decken diese Beiträge nicht die Kosten der Infrastruktur, des Rechtssystems, der Polizei, der öffentlichen Verwaltung und des Sozialsystems ab. Die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten werden noch schwieriger zu integrieren sein als die bisherigen Migranten, weil sie aus Ländern kommen, deren Schulsysteme schon vor dem Krieg nicht funktioniert haben. Bei zwei Dritteln der Hauptschulabgänger lagen die Leistungen unter dem Pisa-I-Niveau, das als Grenze zum funktionalen Analphabetentum gilt. Ihr einziges Plus ist ihr geringes Alter. Das verbessert die fiskalische Rechnung etwas, aber nicht genug. Mein Kollege Bernd Raffelhüschen aus Freiburg kommt auf der Basis seiner Rechnungen zur sogenannten Generationenbilanz zu dem Schluss, dass uns eine Million Flüchtlinge barwertmäßig 450 Milliarden Euro kosten werden, wenn sie nach sechs Jahren so integriert sind wie der Durchschnitt der bereits anwesenden Migranten. Wären die Flüchtlinge hingegen, gegeben ihr jugendliches Alter, so gut ausgebildet wie der Durchschnitt der in Deutschland ansässigen Bevölkerung, so ergäbe sich ein Plus von 300 Milliarden Euro. Das sagt eigentlich alles.
F&L: Die geplante Abschaffung der 500-Euro-Scheine hat nach Ihrer Einschätzung ganz andere Gründe als die der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung. Warum ist es gefährlich, die großen Euro-Scheine abzuschaffen?
Hans-Werner Sinn: Die Bekämpfung der Kriminalität ist eine Nebensache. Es geht darum, dass die EZB die Zinsen weiter in den negativen Bereich schieben will. Das kann sie nicht, wenn die Banken, Kapitalsammelstellen und Bürger ihr Geld bar horten können, statt es auf Konten zu halten. Die Kosten der Bargeldhaltung bestimmen die Untergrenze für den Negativzins, der am Markt durchsetzbar ist. Sie liegen derzeit für die Banken bei knapp 0,2 Prozent. Deswegen hat der Strafzins von 0,3 Prozent, den die EZB auf ihre Einlagen verlangt, bei den Banken bereits massive Vorbereitungen für die verstärkte Bargeldhaltung ausgelöst. Mit der Abschaffung des Fünfhundert-Euro-Scheins steigen die Kosten der Bargeldhaltung auf etwa das Zweieinhalbfache. Das ermöglicht theoretisch Strafzinsen von 0,5 Prozent bis 0,75 Prozent. Nutzt die EZB den neuen Spielraum, werden noch mehr Marktzinsen negativ werden als ohnehin schon. Irgendwann sind dann auch die Privathaushalte mit negativen Einlagenzinsen dran. Diese Politik ist gefährlich, weil sie zur Enteignung der Sparer führt und die sich in Deutschland allmählich verstärkende Immobilienblase noch weiter aufbläht. Da jede Blase irgendwann platzt, kann man das nicht hinnehmen.
F&L: Sie sind zum Hochschullehrer des Jahres gewählt worden. Ist das einem Vielgeehrten wichtig?
Hans-Werner Sinn: Es freut mich insbesondere deshalb, weil ich mich trotz meiner vielfältigen Aktivitäten in öffentlichen Medien vor allem als Wissenschaftler und Universitätsprofessor sehe. Die Entscheidung, die Präsidentschaft des ifo Instituts zu übernehmen, ist mir seinerzeit nicht leicht gefallen, weil ich befürchtete, aus der Wissenschaft abzudriften. Das habe ich durch die ehrenamtliche Beibehaltung meines Lehrstuhls und die Reservierung der Ferien und Freizeit für die Forschung zu verhindern versucht. Durch die Ehrung seitens der Kollegenschaft fühle ich mich bestätigt.
F&L: Als Kind prägten Sie sozialdemokratische Werte. Wie stehen Sie heute dazu?
Hans-Werner Sinn: Daran hat sich nichts geändert. Ich sehe den Sozialstaat als wesentliche Stütze unserer Gesellschaft. Indes habe ich im Laufe des Lebens, ja eigentlich schon im Studium, den Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gelernt, um einmal die Begriffe Max Webers zu verwenden. Volkswirte sind Verantwortungsethiker, denn sie unterscheiden zwischen den Instrumenten und Zielen der Politik und studieren, wie die Instrumente die Wirtschaftsmaschinerie beeinflussen. Erst auf der Ebene der Ziele orientieren sie sich an der christlichen und sozialdemokratischen Ethik. Das setzt die Volkswirte häufig in einen Widerspruch zu Journalisten und Politikern, von denen sich manche mangels Kenntnis der Wirtschaftsabläufe stärker auf die ethische Bewertung der Instrumente konzentrieren.
F&L: Ihnen wird häufig vorgeworfen, zu „starke Geschütze“ bei der Darstellung Ihrer Thesen aufzufahren. Wie gehen Sie mit diesem Vorwurf um?
Hans-Werner Sinn: Das ifo Institut gibt mir starke Geschütze an die Hand, in der Tat. Vieles, worüber die Öffentlichkeit im Unklaren ist, wird einem sonnenklar, wenn man die Fakten kennt. Leider ärgert das so manchen Ideologen, und zwar umso mehr, je eindeutiger die Fakten und Argumente sind. Ein Journalist hat sich kürzlich in einem Leitartikel selbst entlarvt, als er schrieb, meine Schriften seien bedrohlich, weil ich dem Levitenlesen unbestreitbare Fakten voranstelle. Ist das nicht verrückt?
F&L: Wie beurteilen Sie die Debattenkultur in Deutschland?
Hans-Werner Sinn: Die Kultur ist besser als in den USA, wo Sie an dem dinner table politische Themen gar nicht ansprechen dürfen. Auch die Medien glänzen dort nicht. Ausnahmen wie die New York Times bestätigen die Regel. Die europäischen Länder sind in dieser Hinsicht viel besser. Ein Problem ist freilich, dass sich manche Journalisten zu volkswirtschaftlichen Fragen äußern, obwohl sie das Fach gar nicht studiert haben. Sie kritisieren die universitäre Volkswirtschaftslehre, obwohl sie sie nicht verstehen und ihre Erkenntnisse nicht mögen. Das liegt auf einer ähnlichen Ebene wie die Kritik der Medien an der Schulmedizin. Viele Artikel sind meinungsstark, aber schwach an Argumenten und miserabel bei der Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge. Große Defizite sehe ich beim Fernsehen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender werden durch die Rundfunkräte kontrolliert und stellen vieles aus der Sicht der Parteien dar, während neutrale Sichtweisen oder auch die Meinungen von Parteien, die dort nicht vertreten sind, eher weniger vorkommen. Schon der Ton, die Gestik und die Mimik manches Moderators machen dem Zuschauer klar, wie er zu denken hat. Das kann eine Uniformität und eine Enge des Denkens erzeugen, die ich für problematisch halte, weil ein ganzes Volk sich auf einen Irrweg begeben kann, ohne es zu merken. Sicher, wir haben viele Medien, die in Konkurrenz stehen. Und sie widersprechen sich oft. Doch ist der Mainstream, der sich unter Journalisten und Politikern ausbreitet, häufig nicht mit dem Konsens in den Wissenschaften kompatibel. Kollektive Irrwege können deshalb sehr lange beschritten werden. Ich sehe Deutschland zum Beispiel bei der Energiewende auf einem solchen Irrweg, denn weder werden die Reaktionen der Anbieter fossiler Brennstoffe bedacht noch wird der Volatilität des grünen Stroms genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung sehe ich kritisch, weil sie den Realitäten der schier unermesslichen Wanderungsbereitschaft riesiger Völkerscharen in den Entwicklungsländern nicht gerecht wird. Die Euro-Rettung habe ich kritisiert, weil die Hilfskredite im Wesentlichen von der EZB kamen, die dafür nicht legitimiert war, und weil wir, als es darauf ankam, zentrale Regeln des Maastrichter Vertrages über Bord geworfen haben.
Durch die Internet-Foren wurde das Wissen zwar demokratisiert. Schlimm finde ich aber, dass es möglich ist, sich unter falschem Namen an Debatten zu beteiligen und irgendwelchen hanebüchenen Unsinn in die Welt zu setzen, ohne dafür Rechenschaft leisten zu müssen. Aber das Internet bietet auch die Chance, Meinungskartelle aufzubrechen. Um die Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der Argumentationen zu stärken, ist es meines Erachtens erforderlich, nur noch Debatten mit offenem Visier zuzulassen. Man muss aber auch aufpassen, dass keine Meinungskartelle entstehen. Solche Kartelle scheint es mir manchmal zu ökonomisch und politisch relevanten Themen bei Wikipedia-Seiten zu geben, wenn diese Seiten wegen der unterschiedlichen Meinungen der Schreibenden geschlossen werden. Diejenigen, die sie dann verwalten, bleiben vollkommen anonym und können nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie auf den Wikipedia-Seiten eine ideologisch verzerrte Selektion der Wahrheit zementieren.
F&L: Sind wir zu politisch korrekt in Deutschland?
Hans-Werner Sinn: Wissenschaft ist nicht politisch korrekt, denn sie sucht die Wahrheit. Politische Korrektheit ist das, was Orwell „Neusprech“ nannte: Eine Falschaussage, die durch Wiederholung den Charakter einer Scheinwahrheit in den Köpfen der Menschen schafft. Die politische Korrektheit ist Gift für die Wissenschaft und Gift für die freie Gesellschaft. Deswegen kann ich ihr nichts Gutes abgewinnen, auch nicht in Maßen. Schlimm ist es, wenn die Presse politisch korrekt sein will, denn dann stellt sich die Pressefreiheit gegen die Meinungsfreiheit. Es entsteht eine zweite Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit, die wir in der Wissenschaft meinen und sehen, kaum noch etwas zu tun hat.
F&L: Wie fällt Ihr Urteil über Wissenschaft in Deutschland aus?
Hans-Werner Sinn: Die schwierigen Nachkriegsjahre, während derer die Kollegen aus anderen Ländern uns reserviert gegenüberstanden, sind vorbei. Deutschland wird heute wieder als eine gleichberechtigte Wissensnation akzeptiert. In Teilbereichen erbringen wir sogar weltweit anerkannte Spitzenleistungen. Für meine eigene Disziplin, die, bis auf die Staatswirtschaftslehre, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften keine traditionelle Domäne Deutschlands war, kann man feststellen, dass heute im europäischen Vergleich kein Rückstand mehr erkennbar ist.
Nachzulesen bei: www.forschung-und-lehre.de