Gewinn, 30. Juni 2017, S. 40-41
GEWINN: Die Stimmung unter europäischen Unternehmen ist gut. 2017 gibt es voraussichtlich in allen EU-Staaten Wirtschaftswachstum. Sind die Folgen der Finanzkrise endlich überstanden?
SINN: Das Wachstum kommt daher, weil den Staaten erlaubt wird, sich über die vorgegebenen Schranken hinaus zu verschulden. Ich kann natürlich immer durch Staatsverschuldung die Nachfrage des Staates ankurbeln. Der Staat zahlt höhere Sozialleistungen, höhere Gehälter, die Staatsbediensteten gehen ins Restaurant, zum Frisör usw. Was ich mit höheren Staatsausgaben nicht kann, ist die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Ob die vorhanden ist, sieht man am verarbeitenden Gewerbe, der Industrie. Das ist der Sektor, der im internationalen Wettbewerb steht. Da haben wir ziemlich erschreckende Ergebnisse. In Griechenland und in Spanien liegt die Industrieproduktion noch ein Viertel unter jener des Jahres 2007, in Italien um ein Fünftel und selbst in Frankreich um gut zehn Prozent. Seit 2010 findet dort faktisch kein Wachstum statt. Das ist eine reine Seitwärtsbewegung. Nur die Droge des staatlichen Kredits macht die Wirtschaft high.
GEWINN: Warum erholt sich die Industrie in Südeuropa nicht schneller?
SINN: Dort bildete sich bis 2008 eine riesige Spekulationsblase. Die ist geplatzt und hat die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgelöst. Zurück blieben Länder, die in der Blase ein viel zu hohes Lohnniveau aufgebaut hatten. Das war allerdings nicht durch die Produktivität der Unternehmen in diesen Ländern gedeckt. Wegen der hohen Löhne produzierten die Länder zu teuer und sind bis heute nicht wettbewerbsfähig. Sie müssten jetzt eigentlich ihre Währung abwerten, um wieder billiger zu werden. Das Problem: Das können sie als Euro-Staaten nicht.
GEWINN: Was wäre die Lösung? Ein Austritt aus der Euro-Zone?
SINN: Es gibt vier Wege:
1. Im Euro bleiben und Löhne senken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das ist aber mühsam, die Gewerkschaften sträuben sich. In Griechenland ist das in Form von Senkungen im Umfang von zehn Prozent passiert, 30 Prozent wären aber mindestens nötig.
2. Die Länder des Nordens wie Deutschland und Österreich werden nachinflationiert. Über Lohnerhöhungen, Niedrigzinsen etc. Durch die steigenden Kosten in diesen Ländern wird der Süden wieder wettbewerbsfähig. Das passiert bereits, aber nicht schnell genug. Und man weiß auch nicht, ob man das gut finden kann. Schließlich werden die Ersparnisse im Norden dann entwertet.
3. Man macht aus der EU eine Transferunion und akzeptiert die Wettbewerbsunterschiede. Der überhöhte Lebensstandard im Süden wird abgefedert durch einen Finanzausgleich zwischen den Ländern. Das will ja Emmanuel Macron.
4. Der letzte Weg ist der Austritt und die Abwertung.
GEWINN: Welcher Weg wäre Ihrer Meinung der beste?
SINN: Der erste Weg treibt die Länder in eine Rezession. Der zweite Wegführt zu gravierenden Verteilungsproblemen. Man sollte den Sparern nicht über Inflation ihr Erspartes wegnehmen. Den dritten Weg halte ich ebenfalls für gefährlich. Die Länder gewöhnen sich an die Transfers und kommen nie wieder aus dieser Schleife. Es bleibt also nur der Austritt. Im Fall Griechenland wäre das sicher besser. Ich plädiere dafür, den Euro zu einer atmenden Währungsunion zu machen. Dort kann man nach geregelten Verfahren nicht nur ein-, sondern auch austreten.
GEWINN: Wer ist neben Griechenland noch austrittsreif?
SINN: Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wer mitmachen will, soll dabei bleiben, aber er soll nicht die Hand aufhalten. Portugal steht auf der Kippe. Ob Italien und Spanien austreten sollen, wird diskutiert. Frankreich sollte aus politischen Gründen dabeibleiben. Man sollte den Euro nicht in einen Nord- und einen Süd-Euro spalten.
GEWINN: Selbst ohne Griechenland würde die Europäische Zentralbank die Zinsenvermutlich noch länger bei null belassen. Eine Zinserhöhung würde auch dem Aufschwung in allen anderen Euro-Ländern schaden?
SINN: Der Stimulus, der in der Droge des billigen Geldes liegt, würde wegfallen. Die Leute würden sich nicht mehr so high fühlen. Aber es gäbe dann ernsthafte Reformanstrengungen. Die Nullzinspolitik erzeugt nur kurzfristige Strohfeuer, kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Wir kommen durch die Nullzinspolitik in eine Phase, in der Zombie-Firmen und Zombie-Banken am Leben gehalten werden. Diese hätten bei normalen Zinsen längst neuen Unternehmen Platz machen müssen. Ein Prozess der schöpferischen Zerstörung ist die eigentliche Quelle des Wachstums.
GEWINN: Vor dieser Phase der schöpferischen Zerstörung haben viele Menschen wohl nicht zu Unrecht Angst.
SINN: Diese Angst ist falsch. Das ist die Funktionsweise einer Marktwirtschaft. Man muss den Konkurs von Strukturen zulassen, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
GEWINN: DieEuropäische Zentralbank will keine Lawine an Pleiten lostreten. Das könnte im schlimmsten Fall wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre enden.
SINN: Je länger man mit dem Kurswechsel wartet, desto lauter wird der Knall. Es wird nur dann eine große Krise geben, wenn man diese Politik fortsetzt, die Europa in einen Schuldensumpf hineintreibt und in Nordeuropa Blasen entstehen lässt, die platzen könnten.
GEWINN: Welche Blasen sehen Sie dann platzen?
SINN:·Wir haben auf dem deutschen Immobilienmarkt Überhöhungen, die sehr ungesund sind. Die Preise steigen viel schneller als die Mieten. Wir haben auch auf den Aktienmärkten eine riesige Blase. Durch die Nullzinsen verlagern die Leute ihre Ersparnisse in Aktien. Sobald die Zinsen auf ein normales Niveau zurückkehren, brechen die Kurse ein und kehren auf das gerechtfertigte Niveau zurück.
GEWINN: Mittelfristig wird es wohl zu einer langsamen Zinserhöhung kommen. Würde dann nicht langsam die Luft aus den Blasen entweichen, statt mit einem lauten Knall zu platzen?
SINN: Dann kann man das Platzen vielleicht noch verhindern und deshalb ist eine Zinsanhebung dringend erforderlich. Aber wenn man den Standpunkt vertritt, die Länder Südeuropas können höhere Zinsen gar nicht verkraften, und deshalb müssen wir bei Null- und Negativzinsen bleiben, dann wächst die Blase weiter. Dann wird es gefährlich!
GEWINN: Der internationale Währungsfonds, Emmanuel Macron, Donald Trump - der Druck auf Deutschland steigt, seinen hohen Exportüberschuss zu verringern und mehr zu konsumieren, mehr zu investieren. Würde das der europäischen Wirtschaft helfen?
SINN: Schon richtig. Aber dazu müssten die anderen Länder aufhören, bei Deutschland immer mehr Kredit zu nehmen. Dann würden sie weniger importieren, und Deutschland hätte weniger Exportüberschüsse. Bedenken Sie, dass die Exportüberschüsse definitionsgemäß einem Kapitalexport, also im Kern einer Kreditvergabe an das Ausland gleichen.
GEWINN: Trotz aller Herausforderungen in Europa: Viele Beobachter sehen derzeit das höhere politische und wirtschaftliche Risiko in den USA.
SINN: Das Risiko ist nicht nur durch Trump groß. Die Amerikaner sind der größte Nettoschuldner der Welt. Die Beschäftigung ist im Dienstleistungsbereich hoch, aber das verarbeitende Gewerbe liegt darnieder. Die USA haben es ähnlich wie Frankreich oder Italien immer noch nicht geschafft, das Vorkrisenniveau zu erreichen. Da wie dort gibt es eine exzessive Verschuldungspolitik. Das würde mir als Anleger auch ohne Trump Sorgen machen.
Das Interview führte Robert Wiedersich.