Handelsblatt, 02.12.2016, S. 64-65
Der Ökonom erwartet kräftige Wohlstandszuwächse durch die Digitalisierung. Aber auch die Ungleichheit wird wachsen, so Sinn. Hier sei der Staat gefragt. Den Gedanken, dass Algorithmen Arbeit irgendwann einmal überflüssig machen, hält er für irrwitzig.
Als Hans-Werner Sinn am Morgen nach der US-Wahl aufwachte, traute er zunächst seinen Augen nicht: Die Amerikaner hatten tatsächlich Donald Trump zu ihrem Präsidenten gewählt. "Niemand hatte das erwartet", sagt Sinn. Auch er nicht. Es war für den Ökonomen allerdings wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Gut vier Monate zuvor, als die Briten sich in einem Referendum wider Erwarten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden, hat dies kaum jemand vorhergesagt. Auch damals machte sich in den frühen Morgenstunden Ratlosigkeit breit. "Wir leben in unsicheren Zeiten", so Sinn. Angst vor der Globalisierung, Angst vor der Digitalisierung, Angst vor dem Jobverlust - das charakterisiere unsere Epoche. Seit Sinn nicht mehr Präsident des Ifo-Instituts ist, hat er viel Zeit zum Nachdenken. Im Gespräch macht er oft Pausen, zögert. So lange, bis sich auch die vertracktesten Probleme in sein ökonomisches Koordinatensystem einfügen lassen. Denn trotz aller Unsicherheit: Sein Glaube an die Marktwirtschaft ist unerschütterlich.
Herr Sinn, nehmen wir an, Sie hätten Kinder im Schulalter, die sich jetzt für eine Berufsausbildung oder ein Studium entscheiden müssten. Was würden Sie ihnen im Digital-Zeitalter raten?
Ich glaube, bei allen naturwissenschaftlichen Fächern wie Physik, Elektrotechnik, Medizin, Biologie oder Chemie kann man wenig falsch machen. Auch das Handwerk hat einen goldenen Boden. Viele Dienstleistungen lassen sich nicht wegrationalisieren. Angewandte Fächer wie Maschinenbau, Mechatronik, Gentechnik oder Pharmazie bieten hohe Chancen. Zukunftssicher sind Berufe im Bereich der digitalen Welt; allerdings veraltet das Wissen dort sehr schnell.
Von welchen Berufen würden Sie abraten?
Von Jobs im Bank- und Finanzwesen würde ich abraten. Dort werden viele Jobs wegfallen, weil vieles automatisiert werden kann. Wir stehen vor einem Umbruch der Bankenwelt.
Viele Menschen empfinden die Digitalisierung als Bedrohung und haben Angst um ihren Job. Was sagen Sie als Ökonom: Schafft die Digitalisierung mehr Arbeitsplätze, als sie vernichtet?
Das hängt in erster Linie von der Lohnflexibilität in einer Volkswirtschaft ab und der Bereitschaft der Menschen, sich neu zu orientieren. Bei ausreichender Flexibilität werden per saldo keine Arbeitsplätze zerstört, sondern der technische Fortschritt macht sich in Wachstumsschüben bemerkbar. Die Menschen, deren Jobs durch die Digitalisierung verloren gehen, werden dann in anderen Branchen Arbeit finden. Das ist eine ganz normale Entwicklung. Denken Sie an das 19. Jahrhundert, wo 80 Prozent der Deutschen in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Jetzt sind es nur noch zwei Prozent.
Nun haben die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt, dass sich Löhne nicht beliebig senken lassen ...
Die Digitalisierung wird sehr viel Macht und Einkommen in die Hände derer geben, die diese neuen technischen Verfahren besitzen und beherrschen. Sie sind zu direkten Konkurrenten der einfachen Arbeit geworden. Erst hatten wir Maschinen, die die Muskelkraft ersetzten, jetzt haben wir Maschinen, die den Geist ersetzen. Das drückt natürlich in bestimmten Berufen die Löhne. Andererseits gibt es positive Effekte: Menschliche Intelligenz wird mit Hilfe der Computer produktiver. Wer die Computer beherrscht, kann seine Produktivität enorm steigern.
Nun sind die angeblichen Produktivitätsgewinne der Digitalisierung kaum messbar - auch nicht in den USA, wo die Internetökonomie besonders entwickelt ist. Die Produktivität stagniert seit Jahren auf niedrigem Niveau, in manchen Quartalen sank sie zuletzt sogar. Wird die Wirkung der Digitalisierung auf den Gesamtwohlstand überschätzt?
Nein, die US-Wirtschaft wächst ja im Vergleich zu anderen Industriestaaten recht ordentlich. Das niedrige Produktivitätswachstum erklärt sich aus der Tatsache, dass in den USA viele Jobs mit geringer Qualifizierung geschaffen werden, deren Produktivität natürlich geringer ist als der Durchschnitt. Das ist aber nicht besorgniserregend, sondern zeigt nur, dass die Produktivität, gemessen als Sozialprodukt geteilt durch die Zahl der Arbeitnehmer, ein untaugliches Mittel ist, um die Wohlstandsentwicklung als Ganzes zu beurteilen.
Gut bezahlte Arbeitsplätze in der Digitalwirtschaft entstehen vor allem im Silicon Valley: Europäer nehmen ein europäisches Taxi, Uber verdient. Europäische Wohnungen werden an Europäer vermietet, Airbnb verdient. Europäische Medien schaffen Inhalte für Europäer, Google verdient. Muss Europa sich wehren, oder ist das einfach Marktwirtschaft?
Das ist Marktwirtschaft. Die Gewinne sind nur der Spiegel der Wohlstandsgewinne, die durch die Erfindungen zustande kommen. Aber es gibt auch Grenzen. Das regulatorische Umfeld muss berücksichtigt werden. Ein Taxifahrer etwa muss ein Taxischein haben, muss bestimmte Standards und Kenntnisse vorweisen. Dass Privatleute dieses Gewerbe durch Schwarzarbeit in ihren eigenen Pkws verdrängen, kann nicht sein. Wenn Uber allerdings nach den Regeln des Personenbeförderungsgesetzes Taxiflotten betreibt - und künftig möglicherweise selbst fahrende - dann ist das völlig in Ordnung, weil es ein Beitrag zur Verbesserung des Wohlstands ist.
Es gibt Zukunftsforscher und Technik-Fans, die schon einen Lebensalltag sehen, wie Karl Marx sich ihn vorstellte, weil Algorithmen die Arbeit übernehmen: morgens jagen, nachmittags fischen, frei von jeglichem Zwang. Reines Wunschdenken?
Dass uns die Arbeit ausgehen könnte, daran glauben Ökonomen nicht. Das kann es in der Marktwirtschaft eigentlich nicht geben. Allerdings könnten die Löhne für bestimmte Arbeiten so weit sinken, dass kaum jemand bereit ist, dafür zu arbeiten, wenn er die Möglichkeit hat, vom Staat Lohnersatzleistungen zu kassieren.
Sie meinen damit so hohe Hartz-IV-Sätze, dass sich der Anreiz zu arbeiten verringert?
Hartz IV besteht zum Glück nicht nur aus Lohnersatzleistungen, sondern auch aus Lohnzuschüssen. Solange der Staat nur Lohnzuschüsse gibt, wird uns die Arbeit niemals ausgehen. Und Lohnzuschüsse zum Abbau der durch die Globalisierung entstehenden Ungleichheit kann Deutschland sich leisten. All das funktioniert aber nur, wenn wir nicht gleich die ganze Welt mitretten wollen.
Wie viel Kompensation für die Globalisierungsverlierer kann eine Marktwirtschaft verkraften? Derzeit gibt es ja die Debatte über ein allgemeines Grundeinkommen, das deutlich über den Hartz-IV-Sätzen liegt.
Das halte ich für eine Schnapsidee. Stellen Sie sich vor, wir geben jedem Bürger einen Tausender im Monat. Das würde mehr als eine Billion Euro kosten. Würde das etwa, wie manchmal vorgeschlagen, durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert, müssten wir den Steuersatz versechsfachen. Und man kann auch nicht die Renten stattdessen abschaffen. Das sind alles unrealisierbare Utopien.
Der Erfolg Donald Trumps in den USA wird oft damit erklärt, dass dort im Mittleren Westen viele Jobs verloren gegangen sind. Einige Ökonomen behaupten, dass das weniger mit der Abwanderung dieser Jobs nach China, sondern vor allem auch mit der Digitalisierung zu tun hat. Was meinen Sie?
Das sind eindeutig Folgen der Globalisierung. Wir haben vor 25, 30 Jahren dramatische Veränderungen erlebt durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die Öffnung Chinas. Dreißig Prozent der Weltbevölkerung, die in den kommunistischen Staaten lebten, wurden in die Weltwirtschaft integriert. Die Menschen wollten so leben wie die 15 Prozent der Weltbevölkerung in den Industriestaaten. Das hat die Knappheitsverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital massiv verschoben zugunsten des Kapitals und zulasten der Arbeit. Der zunehmende Wettbewerb hat die Ungleichheit innerhalb der Industrieländer vergrößert. Gleichzeitig hat sich die Ungleichheit im globalen Maßstab allerdings massiv verringert.
Von den USA mit ihrer starken Internetwirtschaft sollte man eigentlich annehmen, dass sie sich aufseiten der Globalisierungsprofiteure sehen. Jetzt haben sie einen bekennenden Protektionisten gewählt. Was ist schiefgelaufen?
Die USA haben ihr Sozialsystem über Jahre vernachlässigt und die Globalisierungsverlierer mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen.
Was halten Sie von Trumps wirtschaftspolitischen Plänen?
Warten wir mal ab, was er wirklich unternimmt. Aber seine protektionistischen Äußerungen lassen nichts Gutes ahnen. Die Handelsbeschränkungen, die angekündigten Strafzölle gegenüber China - das klingt alles sehr bedrohlich, insbesondere auch für Deutschland. Wie man so hört, will Trump auch etwas gegen die deutschen Exportüberschüsse unternehmen.
Das Jahr war sehr turbulent. Erst der Brexit, dann die Wahl Trumps. Am Wochenende auch noch das Italien-Referendum. Überall gewinnen rechts- oder linkspopulistische Bewegungen an Macht. Was sollte die Politik unternehmen, um Abstiegsängste und Jobverluste in Grenzen zu halten? Brauchen wir generell mehr Sozialstaat?
In Deutschland nicht, in den USA ja. Das Land hat aufgrund seiner Wirtschaftskraft alle Möglichkeiten, die negativen Folgen der Globalisierung abzumildern. Die Politik hat das aber versäumt, und jetzt bringt die wachsende Wut einen Donald Trump ins Präsidentenamt, der die Schotten dichtmachen will. Mit einer solchen Politik würde er aber die Wohlstandsgewinne, die durch den Handel entstehen, gefährden.
Nun gibt es nicht nur in den USA rechtspopulistische Tendenzen, sondern auch in Deutschland - trotz eines großzügigeren Sozialsystems ...
Ängste gibt es auch hier, aber sie haben weniger mit Freihandel zu tun als mit der Immigration. Dass Deutschland mit seiner leistungsfähigen Industrie der große Globalisierungsgewinner ist, wird kaum jemand bestreiten. Doch die Skepsis gegenüber der Einwanderung nimmt zu. Die Freizügigkeit von Menschen stößt in Ländern wie Deutschland, die stark umverteilen, an Grenzen. Wir können die Globalisierungsverlierer im Land nicht ausreichend unterstützen, wenn wir gleichzeitig die Grenzen für Menschen beliebig offen halten.
"Kauft unsere Produkte, aber behaltet eure Menschen" - ist das Ihre Botschaft?
Wenn Sie so wollen. Die Menschen müssen dort bleiben, wo sie sind, und dort selbst etwas aufbauen, um zu Wohlstand zu kommen. Sozialstaaten können keine freie Einwanderung in den Sozialstaat zulassen, nicht einmal innerhalb Europas.
In der EU ist dieses Recht aber verbrieft ...
Genau das ist ja das Problem. Die EU hat geglaubt, Sozialstaatlichkeit, freie Wanderung und Inklusion der Migranten in den Sozialstaat ließen sich verbinden. Das ist ein Denkfehler. Ein Ziel muss weichen. Die Inklusion sollte auf erarbeitete Sozialleistungen beschränkt werden. Ererbte Sozialansprüche müssen vom Heimatland bezahlt werden.
Was können die einzelnen Länder zum Beispiel im Bereich der Bildung tun, um die Menschen für das Digitalzeitalter besser vorzubereiten?
Die mathematische und naturwissenschaftliche Ausbildung an den Schulen ist schlecht. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass wegen der relativ schlechten Bezahlung der Anreiz für Menschen, die sich in diesen Bereichen auskennen, Lehrer zu werden, äußerst gering ist.
Das heißt, wir brauchen in den Schulen und Universitäten weniger Kant und Goethe und mehr Mathe oder Computerwissenschaften?
Mehr Mathe und Naturwissenschaften, aber nicht weniger Goethe und Kant. Ein ganzheitliches Bildungsangebot ist elementar. Wir brauchen mehr Schule und Bildung überall. Das gilt übrigens auch für die Wirtschaftswissenschaften. Das ökonomische Wissen ist hierzulande stark unterentwickelt, was letztlich auch zu politischen Risiken führt. Denn die zunehmende Tendenz, sich von der Marktwirtschaft abzuwenden, ist inzwischen bedrohlich.
Herr Sinn, vielen Dank für das Interview.
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