Kurier, 21. Mai 2017, S. 2-5
Hans Werner Sinn ist einer der profiliertesten Ökonomen Deutschlands. Der 68-Jährige war Hochschullehrer und von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. In seinem wissenschaftlichen Werk pointierte er die Kontroverse über die monetäre Entwicklung des Euros sowie der wirtschaftspolitischen Entscheidungen in einer Vielzahl von Beiträgen. Der Träger mehrerer Ehrendoktorate war vor einigen Tagen im Linzer Design Center zu Gast.
KURIER: Frankreich hat mit Emmanuel Macron zwar einen neuen, europäisch ausgerichteten Präsidenten, aber das Land ist in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Die Verschuldung beträgt 96 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), seit vielen Jahren verfehlt es die Verschuldensobergrenze von 3 %. Die Arbeitslosigkeit liegt über zehn Prozentpunkten. Wie bewerten Sie die Lage?
Hans Werner Sinn: Die Industrie liegt am Boden. Die Produktion des verarbeitenden Gewerbes ist noch um zwölf Prozent niedriger als 2007. Seit 2010/'11 gibt es keinerlei Wachstum. Die Industrie ist durch die seit 2008 währende Krise teilweise zerstört worden, und sie hat sich nicht erholt. Frankreich steht immer zwischen Deutschland und Südeuropa. Südeuropa ist in der Krise, damit ist auch Frankreich teilweise in der Krise.
Sollte man es nicht den Südländern zuordnen?
Nicht ganz, denn die Handelsbeziehungen zu Deutschland sind am wichtigsten. Es steht dazwischen. Auch der Kreditfluss, der die Blase in Südeuropa ausgelöst hat, die 2008 geplatzt ist, verlief wesentlich durch Frankreich. Die französischen Banken haben sich bei den deutschen Banken Kredite besorgt und weiter in den Süden verteilt. Als Südeuropa in Schwierigkeiten kam, kam auch Frankreich in Schwierigkeiten. Deswegen wurden auch die Rettungsschirme installiert, um große Verluste für die französischen Banken aufzufangen.
Das war der Hauptgrund, warum Angela Merkel gegen die Meinung der europäischen Finanzminister für den Verbleib von Griechenland in der Eurozone entschieden hat.
Ja, das ist richtig. Das war 2015 und bereits 2010 der Fall. Da setzten sich die Franzosen durch. EZB-Präsident Trichet, IWF-Präsident Strauss-Kahn und der französische Präsident Sarkozy haben damals die Politik gemacht. Sie haben Deutschland gezwungen, für den Rettungsschirm zu stimmen. Christine Lagarde, die damals Finanzministerin war, hatte gesagt, wir wussten, dass wir den Vertrag von Maastricht verletzen, aber wir mussten es tun, um den Euro zu retten. Es ging um die französischen Banken.
Welche Maßnahmen sind in Frankreich nun notwendig?
Frankreich hat einen sehr unflexiblen Arbeitsmarkt. Es hat einen perfekten Kündigungsschutz, aber, so paradox das klingen mag, genau das erklärt die hohe Arbeitslosigkeit. Die Arbeitgeber trauen sich nicht, neue Stellen zu schaffen, denn wenn sie einen neuen Arbeitnehmer haben, werden sie ihn nie wieder los. Das ist das Hauptproblem. Gäbe es lockerere Kündigungsschutzregeln wie etwa in der Schweiz, gäbe es sehr viel mehr Bewegung, und es würden wesentlich mehr Stellen geschaffen. Dann wäre Frankreich flexibler und wettbewerbsfähiger.
Macron hat den deutschen Außenhandelsüberschuss kritisiert. Er hat Vorschläge für die Weiterentwicklung der Euro-Zone vorgelegt: Eurobonds, einen gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftsminister, eine Art Euro-Parlament und einen eigenen Euro-Haushalt, der große europäische Investitionen finanzieren soll. Was halten Sie von diesen Ideen?
Dazu kommt eine gemeinsame europäische Einlagensicherung, mit der die Bürger Nordeuropas die Bankpleiten in Südeuropa auffangen. Und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, mit der sie die Arbeitslosigkeit der Südländer bezahlen. Der Oberbegriff für das Ganze ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Macron will die Eurozone zu einer höheren Staatlichkeit entwickeln. Und bei der Gelegenheit einen Umverteilungsmechanismus einleiten.
Von Deutschland oder Österreich hin zu den maroden Ländern?
Ich halte davon aus drei Gründen nichts. Es kostet uns erstens Geld. Zweitens ist es grundsätzlich nicht gut, Schulden zu vergemeinschaften. Die ersten Jahrzehnte der USA zeigen, dass das problematisch ist. Als Alexander Hamilton (erster US-Finanzminister von 1789-1793, Anm.d.Red.) das machte, mündete das 1837 bis 1842 in neun Staatskonkursen, weil sich die Länder unter der Staatshaftung zu stark verschuldet hatten. Es kann sogar zum Sezessionskrieg 1861 beigetragen haben.
Der dritte Grund meiner Ablehnung ist, dass der Vorschlag Europa teilt. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten klingt vielleicht gut, aber man könnte genauso gut sagen, wir wollen die EU in zwei Teile zerschneiden. Einen Teil, der in der Eurozone ist, und einen anderen, der draußen bleibt. Länder im zweiten Teil könnten zwar beitreten, werden es aber nicht. Je mehr der Euro verfestigt wird, umso tiefer wird der Graben zwischen Deutschland, Österreich auf der einen und Polen, Tschechien, Schweden, Dänemark und Ungarn auf der anderen Seite. Wir ziehen eine Trennlinie durch Mitteleuropa, auch quer durch den alten österreichisch geprägten Kulturkreis. Das ist eine Politik, die schon Richelieu betrieben hat. Sie wird den Zusammenhalt der EU gefährden.
Die Kritik lautet, dass der Euro Deutschland und Österreich wegen der Exportüberschüsse gedient hat, und das auf Kosten der südlichen Länder.
Richtig ist, dass der Euro für Deutschland zu billig ist. Richtig ist auch, dass die Südländer durch die Kreditblase, die der Euro selbst ausgelöst hat, im Vergleich zu Deutschland zu teuer geworden sind. Deutschland und Österreich haben Wettbewerbsvorteile. Falsch ist, das das wirklich ein Vorteil ist, denn wir bekommen für die Exporte nur wenig Waren zurück, weil die anderen zu teuer sind. Die touristischen Dienstleistungen und überhaupt alles ist sehr teuer im Süden. Der Lebensstandard in Deutschland und Österreich würde sich verbessern, wenn es bessere Austauschrelationen gäbe und der Süden relativ billiger würde. Er wäre dadurch auch wettbewerbsfähiger, und es entstünden neue Jobs.
Dazu kommt, dass der Exportüberschuss größtenteils von der Bundesbank kreditiert wird. Sie hat für 8434 Milliarden Euro heutige und frühere Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands finanziert. Das ist ungefähr die Hälfte. Denn das gesamte Auslandsvermögen Deutschlands, das durch Handelsbilanzüberschüsse aufgebaut wurden, liegen bei rund 1,7 Billionen Euro.
Frankreich ist politisch und verwaltungstechnisch zentral organisiert. Wirtschaftlich gut geht es nur Paris und Lyon. Auf dem Land herrscht teilweise sehr hohe Arbeitslosigkeit. Halten Sie föderale Systeme, wie sie beispielsweise Deutschland oder die Schweiz hat, zentralistischen für überlegen?
Ja, eindeutig. Paris ist eine viel zu große Konzentration, jenseits des Optimums. Sobald man den Zustand erreicht, in dem man ein Opernhaus und mehrere Theater hat, ist die Stadt groß genug. Mitteleuropa hat durch seine dezentrale Struktur, die es vom Heiligen Römischen Reich geerbt hat, einfach Vorteile.
Wie sehen Sie die Entwicklung in Italien? Es ist mit 133 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts stark verschuldet.
Die Industrieproduktion ist mit 21 Prozent unter ihrem Vorkrisenniveau. Italien hat ein Viertel seiner Firmen in der Krise verloren. Die Nerven liegen blank. Die Menschen waren anfangs bereit, der Regierung zu glauben, die Hoffnung verbreitet hat. Aber als Jahr um Jahr verging und sich die Situation nicht verbesserte, schwand die Zuversicht. Mittlerweile will man radikale Lösungen. Italien will nun gemeinsam mit Macron das Geld des Nordens. Wenn es das nicht bekommt, wird es mit dem Austritt drohen.
Glauben Sie das tatsächlich?
Ja, sicher, wenn sie das Geld nicht bekommen, das sie haben wollen. Die Italiener wollen jetzt massiv in eine Transferunion.Wenn sie das Ziel nicht erreichen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie austreten werden. Das haben sie schon erklärt. Berlusconi hat bereits die Rückkehr zur Lira vorgeschlagen, Beppe Grillo will raus, die Lega Nord will raus, Fratelli d'Italia wollen raus. Nur die Partito Democratico hält am Euro fest. Sie hat aber nicht die Hälfte der Stimmen.
Wie wird sich die EU weiterentwickeln?
Sie wird sich in die Transferunion weiterentwickeln, die Macron vorschlägt. Er wird die Hälfte dessen, was er haben will, bekommen.
Warum?
Das war bei allen Verhandlungen so. Seit dem Maastrichter Vertrag ist es so, Frankreich fordert 100, Deutschland wehrt sich, ziert sich, zieht rote Linien, verschiebt sie und Frankreich kriegt dann 50. So wird es auch diesmal sein.
KURIER: Das ist eine pessimistische Perspektive.
Hans Werner Sinn: Es ist eine realistische. Bestimmt nicht das, was ich für richtig halte.
Welche Konsequenzen hat das für die wirtschaftliche Entwicklung Europas?
Wir bekommen Regionen, die von Transfers aus anderen Regionen abhängig sind. Das hat zwei Effekte. Zum einen wird dort der Lebensstandard gestützt, was der Sinn der Transfers ist. Zum anderen wird aber die fehlende Wettbewerbsfähigkeit zementiert. Wenn man einem Land Transfers gibt, um einen Lebensstandard zu halten, der durch die Produktivität nicht gedeckt ist, wird es keine Anstrengungen unternehmen, billiger zu werden. Also die Löhne zu senken, bis sie der Produktivität entsprechen. Denn das ist die Grundvoraussetzung für Südeuropa.
Wie war die Krise entstanden?
Durch eine inflationäre Kreditblase. Billiger Kredit floss aus dem Norden in den Süden, riesige Leistungsbilanzdefizite entstanden. Die Löhne im griechischen Staatssektor wurden kreditfinanziert erhöht. Der Immobilienboom in Spanien war kreditfinanziert, mit der Folge, dass die Bauarbeiter höhere Löhne bekommen konnten. Diese kreditfinanzierten Lohnerhöhungen zwangen die im internationalen Handel tätigen Sektoren, ebenfalls die Löhne zu erhöhen. Dadurch ging die Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das gesamte Preisniveau dieser Länder wurde durch kreditfinanzierte Lohnerhöhungen, die über den Produktivitätszuwachs hinausgingen, in den Himmel gehoben. Da ist es bis heute. Das ist das fundamentale Problem von Südeuropa. Wenn ich dieses Leben über den Verhältnissen - ich sage das jetzt so und meine das nicht moralisch - durch Transfers finanziert wird, bleibt der Standort für wettbewerbliche Verhältnisse dauerhaft beschädigt.
Die Menschen werden dort aber auf Dauer nicht zufrieden sein und auf den Norden schimpfen.
Das weiß ich nicht. Sie werden schon zufrieden sein, weil sie durch die Transfers einen gewissen Lebensstandard haben. Es ist ähnlich wie Süditalien, das von Norditalien finanziert wird. Man richtet sich ein, es gibt zwar keine Industrie, aber der Lebensstandard wird durch die Transfers einigermaßen gesichert. Das ist so wie in den neuen Bundesländern in Deutschland, die vom Westen finanziert werden, die auch einen Lebenstandard haben, der nicht der Produktivität entspricht.
Es gibt starke Tendenzen, die Märkte abzuschotten. US-Präsident Donald Trump hat das transpazifische Freihandelsabkommen zwischen den USA und den asiatischen Länder aufgekündigt, in Europa gibt es massiven Widerstand gegen TTIP. Wie wirken sich diese nationalistischen Bestrebungen aus?
Es geht auf Kosten aller beteiligten Länder. Freihandel erlaubt die Spezialisierung und bringt Handelsgewinne für alle Länder. Man kann sich zwar durch protektionistische Maßnahmen kurzfristig einen Vorteil verschaffen, aber man muss bedenken, dass die Ausländer ähnlich reagieren. Die Gegenreaktion zu den USA sehen Sie schon bei Macron, der eine Heimzahlung mit gleichen Mitteln verlangt. Protektionistische Maßnahmen sind auch in Frankreich populär. Wenn nun die Briten nicht mehr dabei sind, wird sich die EU zu einer Handelsfestung entwickeln.
Wie schätzen Sie die Folgewirkungen des Brexit ein?
Politisch zerstört es das Gleichgewicht. Es gibt ja im EU-Ministerrat eine Sperrminorität von 35 Prozent der Bevölkerung. Eine Bevölkerungsgruppe, die 35 Prozent zustande bringt, kann nicht überstimmt werden. Die ehemaligen DM-Block-Länder Holland, Deutschland, Österreich und Finnland hatten gemeinsam mit Großbritannien genau 35 Prozent. Umgekehrt hatten die mediterranen Länder 36 Prozent. Beide hatten eine Sperrminorität. Jetzt geht der mediterrane Block auf 42 Prozent, der Block, zu dem Deutschland gehört, geht auf 25 Prozent runter. Mit der Folge, dass die freihandelsorientierten Länder in die Minderheitsposition gedrängt werden und die Mehrheit eine Festung Europa bauen kann.
Wie beurteilen Sie die Lage Österreichs?
Die österreichische Wirtschaft läuft seit vielen Jahren prächtig. Es ist kaum ein Unterschied zur deutschen Wirtschaft feststellbar. Ohne jemandem zu nahetreten zu wollen, ist Österreich ökonomisch wie ein Bundesland in Deutschland zu sehen. Die alte Republik mit den alten Machtstrukturen scheint jetzt am Ende zu sein. Man wird sehen, was sich jetzt ergibt. Ich bin schon gespannt, ob es Herr Kurz schafft, zum Kanzler gewählt zu werden. Das Zeug dazu hätte er.
Halten Sie Veränderungen im politischen System Österreichs für notwendig?
Was mich in Österreich irritiert ist, dass die Parteien so viel Einfluss in der Verwaltung und im öffentlichen Leben haben. Es ist eine österreichische Besonderheit, dass Positionen in der Verwaltung nach Parteienproporz besetzt werden. Das empfinde ich als störend.
Ihre Prognose?
Österreich steht wie Deutschland bombig da und hat für absehbare Zeit wirtschaftlich beste Aussichten.
Europa ist im Aufschwung. Ist er von Dauer?
Dieser Aufschwung hat zwei Komponenten. Er hat eine wirtschaftliche Basis im Norden und ist im Süden durch Verschuldung und die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) verursacht. Man kann eine Wirtschaft, die eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig ist, durch Staatsverschuldung aufplustern. Wenn der Staat höhere Löhne und Transfers zahlt, können die Staatsbediensteten und die Transferempfänger häufiger essen gehen, der Restaurantbesitzer hat mehr Einkommen, er lässt sich die Haare schneiden und der Friseur kann sich eine Pizza kaufen. Man kann auf diese Weise die Binnensektoren, die nicht im internationalen Handel sind, hochziehen, Sozialprodukt erzeugen und die wirtschaftliche Tätigkeit ankurbeln. Man kann aber nicht die Wettbewerbsfähigkeit des Landes steigern. Ganz im Gegenteil. Man macht dadurch ein zu hohes Lohnniveau erträglich und schädigt die Exportsektoren. Man braucht genau das Gegenteil. Niedrige Löhne, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Durch die inflationäre Kreditblase sind die Länder Südeuropas in einer Situation, wo sich Preise und Löhne weit oberhalb des Gleichgewichts befinden. Schulden sind Drogen. Die Drogen, die in Form von Krediten bis 2008 von den Märken kamen, sind in der Krise ersetzt worden durch öffentliche Drogen der Staatengemeinschaft und der EZB. Sie machen einen high, aber auch süchtig und schwach. Die EZB wird wahrscheinlich ihre exzessiven Anleihenkäufe zurückfahren und auch die Zinsen erhöhen, infolge der Zinserhöhungen der FED.
Woher vermuten Sie das? Das wird noch ein langer Weg, denn die Mehrheit der Stimmen im EZB-Rat sind Länder, die in ihrer Gesamtheit im Ausland verschuldet sind. Mit der EZB-Politik bestimmen sie die Zinsen, die sie ihren ausländischen Gläubigern bezahlen. Sie werden nicht so ohne Weiteres einer Zinserhöhung zustimmen.
Die Amerikaner erhöhen ihre Zinsen, die Zinswende ist passiert, der EZB-Rat sträubt sich dem zu folgen. Einige wie Herr Weidmann wollen die Zinswende, ich glaube aber nicht, dass sie die Mehrheit haben.
Welchen Eindruck haben Sie von Oberösterreich und Linz?
Die voestalpine ist hier in Linz eine unglaublich dynamische Kraft. Sie ist ein großer Zulieferer für die deutsche Autoindustrie, die gerade deswegen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten hat. Die neuen, heiß gewalzten Stähle, die aus Linz gekommen sind, sind eine Weltsensation und haben der deutschen Automobilindustrie geholfen, bessere Autos zu bauen. Linz hat sich in den vergangenen Jahren prächtig entwickelt. Es ist ein Industriestandort erster Güte.
Das Interview führte Josef Ertl.
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