Luzerner Zeitung, 12. Juni 2017, S. 3
Hans-Werner Sinn, die britische Premierministerin Theresa May wollte mit der vorgezogenen Parlamentswahl «eine starke und stabile Regierung» erreichen, nun hat sie gar die Mehrheit im Parlament verloren. Was heißt das für die Brexit-Verhandlungen mit der EU?
Das schwächt zwar die Premierministerin, doch bedeutet es schon deshalb keine Abkehr vom Brexit, weil sich ja auch Labour ganz eindeutig dafür ausgesprochen hat. Im Wahlkampf ging es um ganz andere Dinge. Das war vielleicht der Fehler von Theresa May. Hätte sie den Wahlkampf auf den Brexit bezogen, hätte sie ein klareres Mandat bekommen.
Sie gehen also nicht davon aus, dass sich am Austritt Grossbritanniens aus der EU etwas ändern wird?
Nicht grundsätzlich, doch kann May jetzt nicht mehr auftrumpfen. Sie wird sehr viel vorsichtiger verhandeln müssen, als es ihr sonst möglich gewesen wäre.
Was heißt der Brexit für die EU?
Er ist eine schwere Erschütterung. Nimmt man die Wirtschaftsleistung Grossbritanniens, ist der Brexit gleichbedeutend mit dem Austritt der 19 oder 20 kleinsten EU-Länder. Und bedenken Sie, dass die Europäische Union insgesamt nur 28 Mitgliedsstaaten hat. Das ist ein so dramatisches Ereignis in der europäischen Geschichte, dass jetzt kein Stein auf dem anderen bleiben kann. Man muss genau überlegen, wie man das neue europäische Gebäude konstruiert. Wir brauchen Neuverhandlungen der EUVerträge, während wir parallel mit den Briten über deren Austritt verhandeln.
Macron und Merkel stehen Neuverhandlungen wohlwollend gegenüber. Die Vorstellungen über die Inhalte gehen aber weit auseinander.
Positiv ist, dass sich Emmanuel Macron im Gegensatz zu Marine Le Pen zu Europa bekennt. Seine Vorstellungen von Europa als Transferunion decken sich aber nicht mit dem, was man als Ökonom gut finden kann. Er will eine gemeinsame europäische Einlagenversicherung, mit der die Bürger Nordeuropas die Bankpleiten in Südeuropa auffangen. Er will eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, mit der sie die Arbeitslosigkeit der
Südländer bezahlen. Er will ein gemeinsames Budget, ein neues Parlament für die Eurozone und und und. Die Motive sind allzu durchsichtig. Macron will einen gewaltigen Umverteilungsmechanismus einleiten. Das ist in vieler Hinsicht problematisch und würde zu Missbrauch und zu erheblichen Verwerfungen führen. Mich stört vor allem, dass er die Eurozone zu einer neuen Staatlichkeit verdichten will.
Was ist daran nicht gut?
Ich habe nichts dagegen, die EU in Richtung einer politischen Union weiterzuentwickeln, wenn man denn die Hauptsache einer solchen Union in den Vordergrund stellt, nämlich die Sicherheitspartnerschaft vor allem im militärischen Bereich. Macron will aber nicht die EU, sondern die Eurozone stärker zusammenschweissen. Mit seiner Politik des Europa der zwei Geschwindigkeiten teilt er Mitteleuropa und spaltet die nord- und osteuropäischen EULänder ab. Das sind ja nicht wenige. Es sind Dänemark, Schweden, Polen, Tschechien, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Sie sind nicht im Euro, obwohl sie EU-Mitglied sind.
Die ersten Reaktionen in Deutschland waren aber nicht so ablehnend.
Zunächst hat jeder aufgeatmet, dass Marine Le Pen nicht gewählt wurde. Man muss dem jungen Präsidenten mit einem gewissen Wohlwollen begegnen. Danach muss man ihn aber wegbringen von seinen problematischen Forderungen. Der Deutsche Bundestag kann der Schaffung einer eigenen Budgethoheit und einer Steuerkompetenz der Eurozone nicht zustimmen. Dadurch würde nämlich sein Budgetrecht eingeschränkt, und das kann nur das Volk beschliessen.
Es bräuchte eine Verfassungsänderung.
Es müsste zwingend eine Volksabstimmung geben. Das ist in Deutschland, anders als in der Schweiz, ein seltenes Ereignis. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Deutschen dieser Idee ohne Gegenleistung zustimmen werden. Dennoch wird Macron seine Ziele ein Stück weit erreichen.
Weshalb?
Er wird die Hälfte dessen, was er haben will, bekommen. Das war bei allen Verhandlungen so. Seit dem Maastrichter Vertrag ist es immer das Gleiche. Frankreich fordert 100, Deutschland wehrt sich, ziert sich, zieht rote Linien, verschiebt sie, und Frankreich kriegt dann am Ende 50. So wird es auch diesmal sein. Die Forderungen kommen immer von Frankreich, Deutschland selbst entwickelt kaum jemals eine Initiative.
Welche Folgewirkungen wird der Brexit auf die Politik der EU haben?
Das entscheidende Gremium ist der Ministerrat. Dort gibt es eine Sperrminorität von 35 Prozent der Bevölkerung. Wenn eine Gruppe von Ländern 35 Prozent der EU-Bevölkerung hinter sich hat, kann sie nicht überstimmt werden. Grossbritannien hatte zusammen mit Deutschland, Holland, Österreich und Finnland genau 35 Prozent erreicht. Die mediterranen Länder inklusive Slowenien und Kroatien kamen auf 38 Prozent. Beide Gruppen hielten sich die Waage, denn jede konnte unliebsame Beschlüsse blockieren. Mit dem Brexit verschieben sich diese Mehrheiten. Der erste Block schrumpft auf rund 25 Prozent. Der zweite geht auf 43 Prozent hoch.
Was wird das bewirken?
Das politische Gleichgewicht wird zerstört. Die Machtbalance, die es zwischen den eher freihandelsorientierten Ländern des Nordens und den staatsgläubigen, protektionistischen Ländern des Südens gegeben hat, kommt ins Kippen. Ich befürchte, dass dadurch Europa zu einer Handelsfestung ausgebaut wird. Eine Festung, die ihre nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien durch Handelsbarrieren schützen möchte.
Auch in den USA ist ein Protektionist an der Macht.
Das wäre keine gute Gemengelage. Ich kann mir ein Szenarium vorstellen, in dem Trump und die Europäer einander die Bälle zuspielen und sich gegenseitig mit protektionistischen Maßnahmen hochschaukeln. Das wäre gefährlich für Länder wie Deutschland und die Schweiz, die stark vom Aussenhandel abhängig ist.
Sie sind Euro-Skeptiker. Die Gemeinschaftswährung hält sich bis heute. Müssen Sie Ihre Sicht korrigieren?
Nein. Der Euro hat die Krisen nur durch Sozialisierungsaktionen überstanden. Im Maastrichter Vertrag gibt es die No-Bailout- Klausel. Griechenland hätte laut Vertrag pleitegehen müssen, und die Gläubiger Griechenlands – zu einem großen Teil französische Banken – hätten auf ihre Forderungen verzichten müssen. Diese Regeln wurden jedoch über Bord geworfen. Stattdessen hat man eine Haftungsunion geschaffen. Die Zinsen der hochverschuldeten Länder werden durch die Gemeinschaftshaftung künstlich verringert, was diese Länder veranlasst, sich immer höher zu verschulden. Die Gemeinschaftshaftung hat zwar die Finanzmärkte beruhigt und eine weitere Krise verhindert, aber eine viel größere Gefahr heraufbeschworen, weil sie Europa in den Schuldensumpf lenkt.
Themenwechsel: Ende September steht die Bundestagswahl in Deutschland an, welche Rolle spielt dabei Europa?
Fast keine. Es geht vor allem um Innenpolitik. Das ist nicht gut. Denn Europa steht ja zur Disposition. Die Weichen müssen neu gestellt werden. Macron will den Zug auf dem alten Weg, der sichtbar in die falsche Richtung führt, weiter beschleunigen, und die Briten sind ausgestiegen. Europa müsste eigentlich das zentrale Thema des Wahlkampfs sein, ist es aber nicht.
Weshalb?
Deutschland geht es scheinbar gut. Die Welt scheint in Ordnung zu sein, die Konjunktur läuft auf höchsten Touren, und das dicke Ende, die platzende Blase nach der Überhitzung, sowie vor allem die Konsequenzen der gigantischen Haftungsversprechen, die Deutschland bereits abgegeben hat und die es noch abgeben soll, wird man erst später spüren. Dann wird das Wehklagen groß sein.
Es ist sowieso ein ziemlich lauer Wahlkampf.
Es ist ein langweiliger Wahlkampf, was insbesondere an der Kanzlerin liegt. Sie schafft es, brisante Themen abzuräumen. Wenn sie das Gefühl hat, dass eine andere Partei ein Thema beackert, das die Leute aufregt, dann übernimmt sie deren Forderungen und lässt das Thema verschwinden. Selbst das Flüchtlingsthema konnte sie der AfD wegnehmen, ohne ihr Gesicht zu verlieren.
Keine Überraschung also.
Das weiß man naturgemäß nie. Merkel wird aber vermutlich wiedergewählt. Es bleibt also in der Spitze so, wie es ist. Aber vielleicht werden die Liberalen stark genug werden, um zusammen mit der CDU eine Regierung zu bilden.
Das Interview führte Roman Schenkel.
Nachzulesen bei www.luzernerzeitung.ch