Münchner Merkur, 24./25. Februar 2018, S. 3.
Der Professor polarisiert. Hans-Werner Sinn hat sich nie wohlgefühlt im Elfenbeinturm der Wissenschaften, sondern mischt sich von jeher in die Politik ein. Denn er hat eine Mission: eine bessere Gesellschaft, nicht mehr und nicht weniger. Dafür forscht er, deswegen sucht er die Öffentlichkeit, dafür macht er sich auch mal unbeliebt – egal, denn: „Die Wahrheit bleibt die Wahrheit“, ist Sinn überzeugt, „Und die muss ausgesprochen werden.“
Sinn ist ein Volkswirt aus Leidenschaft, ein Marktwirtschaftler durch und durch – aber kein Marktradikaler. Denn er ist für strikte Spielregeln, die der Staat allen Marktteilnehmern setzen muss. Was passiert, wenn diese Regeln fehlen, konnte man wie in einem Brennglas in der Finanzkrise 2008 sehen. Damals wäre das Weltfinanzsystem beinahe kollabiert, weil die Banken mit fremder Leute Geld zockten wie im Kasino, zürnt Sinn noch heute. Dabei hat er den Kern des Problems schon vor 40 Jahren in seiner Dissertation beschrieben: Haftungsfragen. Nur wenn Banken die Verantwortung für ihr Tun übernehmen müssen und auch übernehmen können – weil sie nämlich gezwungen werden, genug haftendes Eigenkapital bereitzuhalten –, können solche Krisen vermieden werden.
Seit 30 Jahren lehrt HansWerner Sinn an der LudwigMaximilians-Universität, 82 Semester universitärer Lehre hat er hinter sich gebracht, Generationen von Studenten begeistert. Eine Karriere, von der ihm nicht an der Wiege gesungen wurde. Sinn stammt aus bescheidenen Verhältnissen, Vater Lkw-Fahrer, Mutter Fabrikarbeiterin. Er war der Einzige aus der Dorfklasse, der aufs Gymnasium ging, obwohl Schul- und Fahrtgeld für seine Eltern zur Herausforderung wurden. Problematisch war anfangs auch, dass der Junge aus Brake kein Hochdeutsch sprach, nur breiten westfälischen Dialekt. Der spätere Gelehrte musste sogar die 8. Klasse wiederholen, was seine Mutter in ihrer Ansicht bestärkte, dass das Gymnasium eben doch nur für Kinder reicher Eltern gedacht war. Doch der Junge hat sich durchgebissen, wie auch später oft im Leben, studierte in Münster, wo er ein klappbettgroßes Zimmer bezog, sich in linken Studentenkreisen bewegte und seine Frau Gerlinde kennenlernte („Die Liebe meines Lebens“).
Heute ist Hans-Werner Sinn ein Volkswirtschaftler von Weltrang, der auch in den USA und Kanada lehrte und den bis heute Staatsmänner aus vielen Ländern um Rat fragen. Jetzt, anlässlich seines 70. Geburtstags am 7. März, hat er seine Autobiografie geschrieben. „Auf der Suche nach der Wahrheit“ heißt sie – wie auch sonst – und ist im Herder-Verlag erschienen. Wir trafen den Professor zum Interview.
Sie sind seit vielen Jahren der einflussreichste deutsche Ökonom und haben oft auch die Politik bewegt. Worauf sind Sie besonders stolz – und welches Scheitern war für Sie besonders bitter?
Das Wichtigste, das ich mit angestoßen habe, ist die Agenda 2010. Ich will mich nicht zum Vater der Agenda machen, aber die aktivierende Sozialpolitik, die sie realisierte, wurde vom ifo Institut definiert. Die im Mai 2002 dazu veröffentlichte Studie war das erste wissenschaftliche Werk, das ich am ifo Institut in Angriff nahm. In einer Arbeits- gruppe hatten wir ausgerechnet, wie die Anreizstrukturen im deutschen Sozialsystem gestaltet sind. Was bekommt man wenn man nicht arbeitet, was, wenn man ein bisschen arbeitet? Wie kommt man nach oben? Es ergab sich eine Art Eigernordwand, die man hätte erklimmen müssen, um in den regulären Arbeitsmarkt hineinzukommen. Ich wollte die Nordwand sprengen und so begehbar machen. Diese Studie hat Furore gemacht.
Deutschland war damals der kranke Mann Europas.
Stimmt. Wir hatten damals das niedrigste Wachstum von allen europäischen Ländern. Die Arbeitslosigkeit wuchs und wuchs. Seit Willy Brandt waren im Westen alle zehn Jahre 800 000 Arbeitslose hin- zugekommen – ein Trend, der gar kein Ende zu nehmen schien Dazu kam die verheerende Lage in den neuen Bundesländern, wo die Wirtschaft zusammengebrochen war. Man konnte die Kosten dieses Sozialstaates nicht mehr stemmen, und es wurde überdeutlich, dass er die Arbeits- losigkeit selbst verursacht hatte, indem er durch das, was er unter der Bedingung der Nichtarbeit zahlte, implizit immer höhere Mindestlöhne schuf. Deutschland war zum Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten geworden, weil die Lohnskala durch die Lohnersatzleistungen von unten her hochgedrückt wurde. Im Übrigen stand die Osterweiterung der EU vor der Tür, die uns eine neue Niedriglohnkonkurrenz bringen würde. Mit den Lohnstrukturen, die wir damals in Deutschland hatten, stand ein Fiasko bevor, das sich nur noch durch beherzte Reformen vermeiden ließ.
Und bei welchem Thema sind Sie am meisten enttäuscht, dass die Politik nicht auf Sie gehört hat?
Das ist die Europapolitik. Weil hier sämtliche Dämme gebrochen sind. Der Grund warum der Euro überhaupt eingeführt wurde, ist, dass schon zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrages halb Südeuropa pleite war. Spanien, Italien und Portugal mussten damals zwölf Prozent Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen bezahlen. Man suchte eine Möglichkeit, sich billiger finanzieren zu können. Und diese Möglichkeit schien der Euro zu bieten. Durch eine gemeinsame Währung würde man sich so billig verschulden können wie Deutschland Und in der Tat: Die Zinsen sind in den beiden Jahren, nachdem die Euro-Entscheidung getroffen wurde, in diesen drei Ländern um fünf Prozentpunkte gefallen. Der italienische Staat hat so viel Geld gespart, dass er die Mehrwertsteuer hätte abschaffen können.
Aber es gab ja Spielregeln.
Ja, Deutschland hatte zur Bedingung für die Aufgabe der D-Mark gemacht, dass es keine Schuldenunion geben sollte. Dafür gab es zwei Vorkehrungen, Paragraf 123 und 125 des EU-Vertrages. Der erste sagt, dass es keine Monetarisierung der Staatspapiere geben darf, das heißt, die Notenbank darf keine Staatspapiere kaufen, um die Regierungen mit frischem Geld zu finanzieren. Der andere Artikel beinhaltet „No bail out“, das heißt, wenn ein Staat pleitegeht, dann geht er eben pleite. Die Gläubiger dieses Staates bekommen ihr Geld nicht wieder. So muss das auch sein, weil die Gläubiger nur dann nicht zu viel Geld verleihen, wenn sie wissen, dass sie ihr Geld bei Überschuldung verlieren. Die Angst der Gläubiger vor dem Konkurs ist das disziplinierende Element, ohne das eine Föderation wie die EU nicht funktionieren kann.
Zumindest auf dem Papier klingt das gut.
Ja. Doch beide Grundsätze wurden geschliffen. Und zwar durch die Rettungsschirme der Staatengemeinschaft und der Europäischen Zentralbank (EZB). Schon im Mai 2010 hat die Bundesrepublik ihre Position geräumt, nachdem vor allem die Franzosen Druck gemacht hatten, um ihre Banken, die bei Weitem größten Gläubiger Griechenlands zu retten. Der nächste Schritt kam im Juni 2012, als Bundeskanzlerin Angela Merkel dem OMT-Programm der EZB (Kreditausfall-Versicherung durch die EZB, die Red.) zustimmte. EZB-Präsident Mario Draghi sprach daraufhin sein „Whatever it takes“ aus. Er konnte nun an die Märkte herangehen und sagen: Niemand braucht Angst zu haben, wenn er spanische Staatsanleihen kauft. Bevor Spanien pleitegeht, kauft die EZB euch die Schuldpapiere ab. Dadurch sind diese Papiere faktisch Eurobonds geworden. Denn die Haftung liegt jetzt bei der EZB und damit bei den Steuerzahlern. Die Südländer konnten sich wie- der zu niedrigsten Zinsen finanzieren und taten es ungeachtet der Eide, die sie im gehärteten Fiskalpakt sprachen, den Angela Merkel zuvor noch stolz verhandelt hatte. Eine neue Schuldenlawine wurde in Gang gesetzt.
In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck, dass an der Euro-Front Ruhe eingekehrt ist. Stimmt das?
Die Ruhe besteht darin, dass die Steuerzahler der noch funktionierenden EU-Staaten zu Bürgen für die Schuldenstaaten gemacht wurden. Was ist denn das für eine Ruhe? Das ist so, als wenn Ihr Nachbar in Schulden versinkt, die Bank Ärger macht, der Offenbarungseid droht und schließlich Sie die Bürgschaft für alles übernehmen. Dann ist die Bank wieder ruhig, und der Nachbar kann sich ein neues Auto kaufen. So eine Art Ruhe ist das. Ich glaube, dass eine härtere Budget-Beschränkung im Euroraum nötig ist. Das Geld wächst eben doch nicht auf den Bäumen. Wenn das einigen Euro-Ländern nicht recht ist, dann sollen sie eben austreten.
Glauben Sie, dass wir das noch erleben werden?
Ich halte das für durchaus möglich. Die Wettbewerbssituation ist in manchen südli- chen Ländern so schlimm, dass all das Geld, das wir auszugeben bereit sind, nicht reichen wird. Es geht ja nicht um Peanuts: 40 Prozent der Bevölkerung der Euro-Zone leben in im Prinzip nicht funktionierenden Volkswirtschaften. Selbst Spanien, das immer so gelobt wird, hängt bei der Industrieproduktion noch immer um mehr als 20 Prozent unter dem Niveau des Vorkrisenjahres 2007. Das ist eine Katastrophe. Auch Frankreich liegt noch um zehn Prozentpunkte zurück. Nur Deutschland und Irland haben den Wiederaufstieg geschafft.
Viele glauben, durch eine Transferunion könnte man Europa stabilisieren.
Das Gegenteil ist der Fall. Die EU als Freihandelsinstitution gab allen Ländern die Möglichkeit, hochzukommen. Das hat die Länder Europas zusammengefügt. Die EU war deshalb eine wirkliche Friedensunion. Die Transferunion, die der Euro nun erzwingt, wird indes zu sehr viel Unfrieden und Ärger in den nordischen Ländern führen. Was passieren kann, sehen Sie an der spanischen Transferunion. Wer diesen Weg beschreitet, schafft Katalonien im Quadrat und bringt die AfD an die Macht.
Wie sehr belastet es Sie, dass die regierenden Parteien das alles nicht hören wollen? Stattdessen stürzt sich die AfD mit Begeisterung darauf.
Die Wahrheit der wissenschaftlichen Erkenntnis steht allen Parteien zur Verfügung, auch der SPD und der CSU. Meine Gedanken in der Eurofrage sehe ich am ehesten in der FDP vertreten. Die FDP hat hier eine kompromisslose Haltung, und genau deswegen sind auch die Koalitionsverhandlungen mit der Union gescheitert. Frau Merkel wollte das Füllhorn aufmachen, die FDP hat Nein gesagt. Das ist der Grund für das Scheitern von Jamaika.
Sie wären für eine Minderheitsregierung gewesen?
Ja. Eine solche Regierung wäre außenpolitisch stärker. Viele glauben umgekehrt, die Große Koalition sei stärker. Das halte ich für einen Denkfehler. In einer Großen Koali- tion kann die Kanzlerin bei EU-Verhandlungen leichter zu Kompromissen genötigt werden, weil ihr Gegenüber weiß, dass sie ihre Zusagen zu Hause durchbringt. Wenn aber klar ist, dass sie nur die Chefin einer Minderheitsregierung ist und sich erst noch eine Mehrheit im Parlament suchen muss müssen die Verhandlungspartner vorsichtiger sein. Den Zusammenhang sehen Sie bei den Verhandlungen zur Großen Koalition.
Warum hat denn die SPD so viele Ministerposten gekriegt? Ganz einfach: Weil die CDU genau wusste, dass die SPD ihre Basis erst noch befragen muss. Die scheinbare Schwäche der SPD-Spitze, gar kein volles Verhandlungsmandat zu haben, sondern die Mitglieder entscheiden zu lassen, erwies sich in Wahrheit als Stärke.
Ein Kapitel Ihres Buches haben Sie der Beratungsresistenz der Politik gewidmet. Wenn Sie der Kanzlerin nun doch einen Rat geben sollten, welcher wäre das?
Ich gebe Frau Merkel nicht mehr gerne einen Rat. Sie befolgt ihn ja doch nicht.
Das Interview führten Corinna Maier und Georg Anastasiadis.