Passauer Neue Presse, 17. Februar 2018, S. 5.
Wiedervereinigung, Standortdebatte, Sozialstaat, Eurokrise, Migration, Brexit – Sie haben als Wissenschaftler wie vielleicht kein anderer die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland und Europa mitgeprägt. Können politische oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen Sie noch erschüttern?
Wie man es nimmt. Ich habe recht große Sorgen, wenn ich mir manche Entwicklungen vor Augen führe. Andererseits habe ich schon so viele Krisen gesehen, dass die Überraschung fast schon zur Normalität gewordenist.
„Auf der Suche nach der Wahrheit“ heißt Ihre Autobiografie, die am 21. Februar erscheint. Haben Sie die Wahrheit gefunden?
Die allumfassende Wahrheit gibt es nicht. Aber ich habe immer mehr ökonomische und gesellschaftliche Wirkungsketten verstanden und gelernt, zwischen wahren und falschen Argumentationen und Darstellungen von Wirkungsketten zu unterscheiden.
Apropos Wahrheit: Wir haben lange nichts mehr von der Schuldenkrise gehört. Sind Griechenland, Italien, Spanien und andere Krisenländer aus dem Schneider? Die Eurokrise ist ja wohl nicht überstanden. Oder?
Der tiefere Grund der Eurokrise ist die inflationäre Kreditblase, in die die Länder Südeuropas durch den Euro gerieten und die mit der Lehman-Krise platzte. Noch immer sind die Länder Südeuropas total überteuert. Ihre Industrien liegen deshalb am Boden. Die Industrieproduktion Spaniens, Italiens und Griechenlands liegt noch um zirka 20 Prozent unter dem Niveau von 2007, dem Jahr vor dem Platzen der Blase. Es gibt nur vier Auswege, aber keiner ist angenehm.Erstens: Man baut eine Transferunion, bei der die fehlende Wettbewerbsfähigkeit durch einen dauerhaften Fluss an Geldgeschenken aus anderen Ländern finanziert wird. Zweitens: Die Länder des Südens deflationieren. Das ist belastend wie eine Chemotherapie. Drittens: Die Länder des Nordens werden nach-inflationiert, bis sie hinreichend teuer sind, um den Industrien des Südens eine neue Chance zu geben. Das enteignet die Sparer des Nordens. Viertens: Nicht mehr wettbewerbsfähige Länder treten aus dem Euro aus und werten ab. Das gefährdet die politische Idee hinter dem Euro. Vorbereitet wird der erste Weg, wie die Vereinbarungen der Großen Koalition und die Äußerungen von Emmanuel Macron zeigen. Diesen Weg hat die EZB fast schon unumkehrbar gemacht, was ein großes Demokratie-Problem ist, weil er ja eigentlich von den Parlamenten beschlossen werden müsste.
Hat Mario Draghi sich und die EZB mit seiner Nullzinspolitik und dem massenhaften Kauf fauler Staatsanleihen in eine Fallemanövriert?
Die EZB, nicht Mario Draghi persönlich, hat die Länder Europas in eine Falle manövriert, denn wenn sie zu einer normalen Geldpolitik zurückkehren will, müssen die Zinsgeschenke an die Schuldner des Südens durch offene Transfers ersetzt werden.Auch wird sie das viele Geld, das im Zuge des QE-Programms in Umlauf kam, nur dann wieder einsammeln können,wenn sie die riesige Menge der erworbenen Staatspapiere im Wert von zirka 1900 Milliarden Euro gebündelt zurückverkauft, sie also zu einer Art Eurobonds macht (QE steht für „quantitativeeasing“–quantitative Lockerung – und bezeichnet die expansive Geldpolitik durch eine Zentralbank; Anmerkung der Redaktion). Verkauft sie die Papiere einzeln,so wie sie sie auch gekauft hat,purzeln die Kurse der Papiere der südlichen Länder, die Zinsen steigen, und der Konkurs von Banken und Staaten steht vor der Haustür.
Gibt es einen Ausweg aus der bisherigen EZB-Nullzins- und Euro-Rettungsstrategie?
Der Ausweg wäre, dass die Länder des Südens lernen, ihre Haushalte ohne die Zinsgeschenke der EZB zu führen.Dazu müssten sie die Steuern erhöhen. Ich bezweifle, dass sie das wollen. Deswegen wird die EZB versuchen, die Zinsen noch sehr lange ganz niedrig zu halten. Da aber die revolutionäre US-amerikanische Steuer- und Defizitpolitik die Zinsen hochtreibt, wird diese Politik immer schwieriger. Sie würde, wenn die EZB ihre eigenen Zinsen niedrig hielte, zu einer abermaligen Abwertung des Euro führen und die Importpreise ansteigenlassen, was die EZB bei ihrem Inflationsziel in Schwierigkeiten bringenwürde.
Die EZB betreibt gegenwärtig eine Umverteilungspolitik von Norden nach Süden,die Aktien steigen lässt, aber dem Sparer seinen Zins verweigert. Eine solche Entscheidung würde ein Parlament eines Mitgliedstaates in öffentlicher Debatte vermutlich nie treffen. Ist ein solcher Geldtransfer zugunsten der Krisenländer demokratisch legitim, wie lange geht eine solche verdeckte Transferunion im Mantel der Währungsunion gut?
Nimmt man die Zinsen, die die sechs Krisenländer Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland und Zypern im Jahr 2007 auf ihre Nettoauslandsschulden zahlen mussten, als Maßstab,hatten sie nach meiner Rechnung in den vergangenen zehn Krisenjahren rund 500 Milliarden Euro an Zinsvorteilen. Gemeint sind hier nicht die Staaten, sondern die gesamten Volkswirtschaften. Die niedrigen Zinsen haben mehrere Ursachen. Man kann nicht alles der EZB anlasten. Ich vermute aber, dass davon ein sehr großer Anteil auf die Maßnahmen der EZB zurückzuführen war, unter anderem auf die riesigen Target Überziehungskredite im Eurosystem, die derzeit zu Nullzinsen bezogen werden können. Doch auch das OMT-Programm und das QE-Programm hatten hier einen erheblichen Einfluss, weil sie zu dramatischen Zinssenkungen führten (OMT = Outright Monetary Transactions, vorbehaltlose geldpolitische Geschäfte; die Redaktion). Alles geschah unter dem Etikett der Geldpolitik. Solche gewaltigen Einkommenstransfers hätten die Parlamente sicherlich nicht beschlossen.
Vom EU-Kapitel der geplanten Großen Koalition halten Sie offenbar nicht recht viel. Es zeichnet sich wohl nicht ab,dass Angela Merkel und die SPD sich dem Trend zur Vergemeinschaftung und dem Kontrollverlust beim Geld entgegenstellen würden?
Emmanuel Macron fordert weitere Vergemeinschaftungsaktionen und will sie mit Deutschland in einem neuen Freundschaftsvertrag festzurren. Die Große Koalition hat ja bereitsv ereinbart, einen solchen Vertrag aushandeln zu wollen.
Was halten Sie von Macrons Eurozone-Offensive – eigener Haushalt, eigener EU-Finanzminister,etc.?Müssen die Deutschen damit rechnen,dass über ihre Steuern und Abgaben in absehbarer Zeit die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten statt des Bundestags entscheiden wird? Wäre solcher Souveränitätsverlust in Deutschland durchsetzbar?
Das Grundgesetz lässt es nicht zu, dass der Bundestag den deutschen Staat einem Leistungsautomatismus unterwirft. Es gilt das Prinzip der Einzelermächtigung. Das hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont. Das ist auch gut so, denn automatisierte Transfers bedeuten, dass Deutschland dauerhaft zahlen muss und dafür allenfalls zu Anfang Gegenleistungen bekommt. Aber welche Gegenleistungen? Im Raum steht die Zusage, neue Schuldenschranken einzuhalten und die Banken zu zwingen, mehr Eigenkapital zu halten, insbesondere, wenn sie Staatspapiere halten. Doch Wohlverhaltensversprechen sind keine Gegenleistungen, sondern eigentlich nur die Zusage, nicht mehr zu nehmen, als man bekommt. Die Große Koalition könnte aber geneigt sein, Wege zur Umgehung des Verfassungsgebots zu suchen, um erst einmal Ruhe an der Front zu schaffen. Die politische Situation ist ähnlich wie 1990, als sich Kohl zur Aufgabe der D-Mark bewegen ließ, um die Franzosen und Südeuropa ruhig zu stellen. Die deutschen Politiker, die das Füllhorn öffnen, können gewiss sein, dass man sie in Brüssel bejubelt.
Wie stellen Sie sich eine auf Stabilität gerichtete EU vor – eher in einer Vertiefung und stärkeren Zentralisierung oder eher als Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten, in großen Reformen oder vorrangig darin, vorhandene Instrumente, Prozesse und Regeln erstens einzuhalten und zweitens zu verbessern?
Ähnlich wie die Schweiz oder die USA. Dort gilt, dass die Zentralbank keine Papiere von Kantonen bzw. Einzelstaaten kauft, die in Finanzprobleme geraten, und es gibt im Krisenfall auch keine Finanzhilfen von der Zentrale. Denken Sie nur an die Situation in Kalifornien, Illinois oder Minnesota.Oder an das Leukerbad-Urteil, das die fehlende Haftung übergeordneter Gebietskörperschaften in der Schweiz nochmals klarstellte.
Noch ein Wort zur geplanten Vergemeinschaftung der Einlagensicherung im Zuge der Bankenunion: Müssen deutsche Banken im Zweifelsfall für marode Institute anderer Länder haften?
Frankreich und Südeuropa fordern fast schon ultimativ eine Vergemeinschaftung der Haftung für die Einlagen. Und das Rückzugsgefecht von deutscher Seite besteht darin, dass man wenigstens noch die genannten Zugeständnisse dafür heraushandeln will. Ich verstehe nicht, warum das angemessene Gegenleistungen für den absehbaren Geldtransfer sind, und befürchte, dass die Gemeinschaftshaftung für die Einlagen eine neue große Kreditblase hervorrufen wird, weil auch marode Banken unter dem Schutz derEinlagensicherung in die Lage versetzt werden, sich billige Einlagen zu verschaffen und sie an windige Kunden zu verleihen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das mittelfristig zu einer großen Bankenkrise führen wird, ähnlich wie die US-amerikanische Savings & Loan-Krise in den 1980er Jahren, halte ich für groß. Aber zunächst einmal ist natürlich Ruhe an der Front, sodass die amtierenden Politiker behaupten können, sie hätten die Gefahren gemindert.
Wer gefährdet die EU mehr, das explosiv hochverschuldete und reformunfähige Italien oder Polen und Ungarn? Wie stabil oder wie brüchig ist die bestehende EU–und ist sie in den nächsten Jahren dazu fähig, die geplante Aufnahme des Westbalkans zu verkraften?
Ich sehe derzeit die größten Risiken in Italien. Das Land hat offenkundige wirtschaftliche Probleme, die sich politisch entladen und zu radikalen Kurskorrekturen führen können. Am Horizont sehe ich auch Gefahren auf dem Balkan. Der Balkan ist heute wegen der exzessiven Fremdwährungskredite, die die dortigen Banken,die Firmen und Haushalte aufnahmen, in einer gefährlichen Lage. Der Anteil der Fremdwährungskredite in Kroatien liegt bei 70 Prozent aller privat aufgenommenen Kredite, und in Rumänien und Bulgarien liegt er bei 50 Prozent. Die Länder sind hochverschuldet, kommen ohne den ausländischen Kredit nicht mehr zurecht und wollen nun im Verein mit ihren Gläubigern im Westen die Euro-Druckerpresse, um die Anleger zu beruhigen und Anschlusskredite zur Bedienung der Altkredite und zur Finanzierung des Lebensstandards ins Land zu locken. Mit der Aufnahme dieser Länder in den Euroverbund ziehen wir uns neue Kandidaten für das europäische Transfersystem heran, denn eigentlich bräuchten diese Länder vorläufig noch das Instrument der Abwertung, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.
Das Interview führte Ernst Fuchs.
Nachzulesen auf www.pnp.de. Eine gekürzte Online-Version vom 18. Februar 2018 ist unter dem Titel „Hans-Werner Sinn vergleicht Transferunion mit Aufgabe der D-Mark“ hier nachzulesen.