Der Standard, 11.03.2016, S. 19.
Provokant, laut und nie um einen Sager verlegen: Einer der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Ökonomen Deutschlands, Hans-Werner Sinn, geht in den Ruhestand.
STANDARD: 32 Jahre Ökonomie-Professor, 17 Jahre Chef des Ifo-Instituts. Was sehen Sie als das größte Erfolgserlebnis Ihrer Karriere an?
Sinn: Meine Forschungen zur Zockerei bei beschränkter Haftung und zum wirtschaftlichen Wachstum. Öffentlichkeitswirksam war insbesondere die Analyse der Target-Salden. Also der ungleichen Versorgung der Länder der Eurozone mit Krediten aus der elektronischen Druckerpresse der nationalen Zentralbanken. Die Target-Salden sind heute weltweit im Blickpunkt. Wenn ein Target-Saldo negativ ist, wie bei Griechenland, zeigt es eine über das normale Maß hinausgehende Geldschöpfung zur Finanzierung von Überweisungen ins Ausland. Quasi ein Rettungskredit, den man selbst beschließt.
STANDARD: Sie scheinen zu fast allen Themen eine Meinung zu haben, ob zu Bargeld, zur Willkommenskultur oder zu einer europäischen Armee. Wann haben Sie Ihre Meinung denn das letzte Mal geändert?
Sinn: Na ja, meine Meinung ändere ich permanent, wenn ich neue Informationen kriege. Sie etwa nicht? Das muss man ja. Beim Autofahren müssen Sie permanent Ihre Meinung über den Straßenverlauf ändern, weil sie mehr Informationen kriegen. Dann müssen sie nachjustieren. Wer das nicht macht, fährt in den Graben.
STANDARD: Haben Sie ein Beispiel, wo sich Ihre Meinung fundamental geändert hat?
Sinn: Die EZB-Politik des Quantitative Easing sehe ich kritischer als noch vor einem Jahr. Weil diese Politik die Inflation nicht erhöht, aber Deutschland und Österreich in eine Immobilienblase treibt. Die Gefahr einer Blase habe ich vor einem Jahr noch nicht so gesehen. Insbesondere weil die EZB mit immer stärker negativ werdenden Zinsen nachlegen will, bin ich da doch kritischer geworden.
STANDARD: Der Mindestlohn in Deutschland scheint auch besser zu funktionieren, als Sie dachten. Sie warnten vor fast einer Million an Jobs, die verlorengehen.
Sinn: Dass langfristig 900.000 Jobs verlorengehen, wurde vom Ifo Dresden prognostiziert. Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Prognosen zu pessimistisch waren. Die Effekte, die wir 2015 bereits beobachten konnten, waren sogar etwas stärker als vermutet. Wie bei den Schröder’schen Reformen wird man einige Jahre warten müssen. Ein Beispiel: Die Betreiber von Schnellrestaurantketten versuchen, den Kopf trotz Mindestlohns über Wasser zu halten. Sie gehen zu ihren Banken, kriegen noch Kredit; der reicht für ein, zwei Jahre. Läuft er aus und ist das Geschäft immer noch nicht besser, kommen die ersten Konkurse.
STANDARD: Wie einflussreich ist Hans-Werner Sinn? Die Agenda 2010 oder den Vorschlag, Griechenland temporär aus dem Euro zu lassen, stießen Sie zumindest mit an.
Sinn: Ja, manchmal gibt es diesen Einfluss mit Verzögerung auf das, was in politischen Kreisen und in der Bevölkerung gedacht wird. Das ist zum Glück so, denn hinter dem Ifo-Institut steht ja eine erhebliche Sachkompetenz.
STANDARD: Sie gelten als der einflussreichste Ökonom des Landes.
Sinn: Das lese ich in den Zeitungen.
STANDARD: Eine Zeitung nannte Sie einmal den Boulevard-Professor, weil Sie so provokant formulieren. Kollegen kritisieren Sie dafür teilweise harsch.
Sinn: Das war die Financial Times Deutschland vor mehr als zehn Jahren. Die gibt es nicht mehr. Den Titel Boulevard-Professor fand ich nicht nett, aber Herrgott, da gibt es viele solche Charakterisierungen auf der Welt. Und was heißt provokant? Das macht die Sache doch klarer. Man kann sich hinter Formulierungen so verstecken, dass keiner versteht, was man sagen will, man kann aber auch Klartext reden. Unter Kollegen sehe ich eine breite Zustimmung. Die Presse pickt sich nur einzelne Leute raus, die eine andere Meinung haben.
STANDARD: Als der Deutsche Bundestag über den Euroschutzschirm abstimmte, schickten Sie Briefe an die Abgeordneten. Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus?
Sinn: Ich habe den Abgeordneten eine wissenschaftliche Studie geschickt. Ein gewisser Aktivismus des Volkswirts liegt in der Natur des Faches. Der Volkswirt muss mit seinem Wissen beratend am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Dafür wird er vom Steuerzahler bezahlt. Soll ich nur Volkswirt sein, um mich mit anderen Ökonomen zu besprechen? Das Ifo-Institut hat als Leibniz-Institut die Verpflichtung, in die Öffentlichkeit zu wirken. Daran werden wir gemessen. Wenn Sie das Aktivismus nennen wollen, ja dann nennen Sie es so.
STANDARD: Sie scheinen die Funktionsweise der Medien perfekt durchschaut zu haben. Was halten Sie von der Medienlandschaft in Deutschland?
Sinn: Wir haben eine sehr gute Debattenkultur, an der sich die Zeitungen beteiligen. Dabei sieht man allerdings viel ideologische Prädisposition; die Zeitungen sind häufig den politischen Lagern zuzurechnen. Und da reibt man sich an den Tatsachen, die Volkswirte auf den Tisch legen. Ich bin mal von den Linken und mal von den Rechten kritisiert worden. Allen Beteiligten gleichmäßig auf die Füße zu treten gibt mir eigentlich ein gutes Gefühl, unverzerrt unterwegs zu sein.
STANDARD: Sie gehen bald in Pension. Wollen Sie weiter so aktiv am öffentlichen Diskurs teilnehmen wie in den vergangenen Jahren?
Sinn: Nein, nicht mehr so intensiv. Es gibt ja noch ein Privatleben. Ich will mehr Zeit für die Forschung haben. Wenn ich dann Ergebnisse habe, werde ich sie aber sicherlich auch mitteilen.
Interview von Andreas Sator und Elena Pramesberger.