Deutschlands bekanntester Ökonom blickt auf sein Leben zurück. Darüber hat er nun einen Wälzer von nicht weniger als 656 Seiten plus Bildteil veröffentlicht. Mancher Altkanzler kam mit weniger aus. Hans-Werner Sinn, der langjährige Präsident des Ifo-Instituts, hat eben besonders viel erlebt und mitzuteilen. Über weite Strecken ist sein neuestes Buch eine zeitgeschichtliche Abhandlung aus der Sicht eines klugen und streitbaren Wirtschaftsprofessors, vermischt mit persönlichen Begegnungen und Reiserinnerungen.
Sinn lässt nochmals Revue passieren, welche Fehler im Prozess der Wiedervereinigung („mein Schlüsselereignis") gemacht wurden. Wie Deutschland daraufhin zum „kranken Mann" Europas wurde und welche Reformen er zur Genesung empfahl. Wie die große Finanzkrise vor zehn Jahren entstanden ist. Warum die deutsche Energiewendepolitik irre teuer und ihre Klimaschutzwirkung fast null ist. Und welche finanziellen Risiken er bei der Euro-Rettungspolitik durch die EZB sieht. Das Anleihekaufprogramm nennt er „eine gewaltige Um- und Entschuldung der südeuropäischen Staaten" und sieht eine „Plünderung" Deutschlands.
Ohne Zweifel ist Sinn, der im März seinen 70. Geburtstag feiert, einer der scharfsinnigsten Ökonomen des Landes, der auch international hohes wissenschaftliches Ansehen genießt. Er ist aber auch umstritten. Wegen seiner Vorschläge zur Reform des Arbeitsmarkts und Sozialstaats wurde er als kalter „Neoliberaler" geschmäht; wegen seiner Wandlung vom Euro-Anhänger zum scharfen Kritiker des Euro („das Hauptproblem Europas") gilt er manchem Linken plötzlich als Nationalist oder Antieuropäer. Weil er Einwanderung ins Sozialsystem ablehnt, wurde er als Rechter bezeichnet. Nun bemüht er sich in seiner Autobiografie, dieses Bild zu korrigieren. Er sieht sich als Europäer durch und durch, der aber den Kontinent durch falsche Politik schwer bedroht sieht.
Viele werden überrascht sein, wie sozialdemokratisch und „links" Sinn in seiner Jugend geprägt war. Er schildert eine Kindheit in Armut. Der Vater, erst Lastwagenfahrer, dann Taxikleinunternehmer, SPD-Mitglied und sehr streng, hatte wenig Zeit für ihn. Den Großvater mütterlicherseits, SPD-Sekretär im pommerschen Kolberg, hatten die Nationalsozialisten ins KZ geworfen, er kam später im Arbeitslager um. Das 1948 im westfälischen Dorf Brake bei Bielefeld geborene Einzelkind wuchs bei der Großmutter auf, weil beide Eltern arbeiten mussten.
Als Einziger seiner Klasse in der Dorfschule konnte Sinn aufs Gymnasium in Bielefeld gehen, musste dort aber erst einmal Hochdeutsch lernen. Sinn wurde Mitglied der SPD-Jugendorganisation „Die Falken", ging als junger Student in Münster zum Sozialdemokratischen Hochschulbund SHB und marschierte in Berlin auf Dutschke-Demos gegen den Vietnamkrieg mit. Ideologische 68er waren Sinn und seine Frau Gerlinde aber nie, Sozialisten oder gar Kommunisten erst recht nicht.
Im VWL-Studium und auf Reisen in den Ostblock lernte Sinn verstehen, wie sehr die Marktwirtschaft — mit dem richtigen Ordnungsrahmen — als Wohlstandsmotor allen Sozialismen überlegen ist. Freilich war er als gestandener Ökonom, der zweimal als Dozent nach Kanada ging, in Mannheim und dann drei Jahrzehnte in München lehrte, niemals ein Marktradikaler oder gar Libertärer. Sinn sieht sich in der Schule des staatszugeneigten Finanzwissenschaftlers Richard Musgrave. Er ist davon überzeugt, dass der Staat eine wichtige Funktion hat: als Stabilisator der Konjunktur und für eine gewisse Umverteilung. Streit mit den Mächtigen hat Sinn nie gescheut, gern adressiert er direkt „das Volk". Er wurde als „bärtiger Prophet" bewundert oder als „falscher Prophet" angegriffen.
Mehr als hundert Seiten — das hätte man straffen können — geht es darum, welche Forschernetzwerke er an der Münchner Uni gegründet hat und wie er das marode Ifo-Institut wieder an die wissenschaftliche Spitze geführt hat. Er hat Konferenzen organisiert und Zeitschriften gegründet; über 200 Namen von Ökonomen, Dutzende ökonomische Theorien begegnen dem Leser. Dann schildert Sinn ausführlich Reiseerlebnisse mit seiner Frau, seine Liebe zur Vielfalt der europäischen Kulturen.
Es wird deutlich: Der westfälische Sturkopf, als der er sich bezeichnet, ist kein kalter Ökonom, sondern ein leidenschaftlicher Mensch, der die Welt verstehen und (zumindest ein bisschen) verbessern wollte. Denkverbote kennt er nicht. Genau das macht ihn produktiv und anregend.