Wer ist eigentlich Hans-Werner Sinn? Und was ist er? Natürlich, er ist ein herausragender Wissenschaftler, ein Kommunikator, ein kluger Kopf, der wirtschaftspolitische Debatten anstößt und sie mit so viel Hingabe führt wie kein anderer Ökonom im Land. Sinn ist aber auch ein begnadeter Übersetzer, was hochzuschätzen ist, denn er kann komplexe Sachverhalte allgemeinverständlich auf den Punkt bringen. Wer sonst könnte aus sperrigen Target-Salden einen Bestseller machen? Hans-Werner Sinn trägt sein wissenschaftliches Sendungsbewusstsein in klarer Sprache so lebendig vor, wie es sonst nur angelsächsische Ökonomen vermögen, wenn gewünscht, auch in 30 Sekunden. Er geht raus aus dem Elfenbeinturm des Theoretikers, er sucht die öffentliche Debatte, stellt sich in Talkshows, schreibt Zeitungsartikel und Bestseller in Serie: „Ist Deutschland noch zu retten?“, „Basarökonomie“, „Das grüne Paradoxon“, „Kasino-Kapitalismus“ und „Target-Falle“.
Sinn ist aber auch ein Meister des Agenda-Settings - und so etwas wie eine eigene Medienmarke. Zur Marke HWS gehören Medienverstand, Tempo, Inhaltstiefe und Fleiß - kombiniert mit handwerklichem Geschick, Mut zur Meinung und fachlicher Brillanz. Sinn liebt den Dialog mit der Öffentlichkeit - und er weiß: Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut in unserer flüchtigen Medienwelt. Wer in der Öffentlichkeit steht und austeilt, muss auch einstecken können. Aber manches geht ihm unter die Haut. Die Verleumdung etwa, er sei ein Europa-Feind, nur weil seine Kritik an der Euro-Rettung politisch unerwünscht ist. Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Sinn ist überzeugter Europäer.
In einem von seinem Ifo-Institut organisierten Abschiedsbuch wird er als Weltverbesserer beschrieben, dem die Zukunft Deutschlands und Europas am Herzen liegt. Darin wird aber auch seine Rolle als „Institution Builder“ gewürdigt. Denn er gründete erst das Münchner „Center for Economic Studies“ und übernahm danach als Präsident das kränkelnde Ifo-Institut, richtete es an internationalen Standards aus und führte es auf höchstes wissenschaftliches Niveau und zu hohem internationalen Ansehen.
Wofür steht HWS in der wirtschaftspolitischen Debatte? Er kokettiert damit, dass er eigentlich ein Linker ist. Sinn kommt aus einfachen Verhältnissen. Bis zum Ende der Grundschule wuchs er bei seinen Großeltern auf, weil seine Eltern die kleine Familie mit harter Arbeit über Wasser halten mussten. Schon mit vierzehn Jahren arbeitete er im kleinen Taxibetrieb seines Vaters mit, in Brake nahe Bielefeld. Er war Mitglied der Falken, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, die SPD war ihm später jedoch zu bieder. Während des Ökonomiestudiums wuchs seine Skepsis gegenüber dem damals linken Zeitgeist. Heute darf man ihn hierzulande wohl einen Ordnungspolitiker nennen. Sich selbst hat er einmal als Ordoliberalen im Sinne Erhards und Euckens bezeichnet. Als Wissenschaftler ordnete er sich nie einer Parteilinie oder Ideologie unter. Ins schlichte Schema von links und rechts passt er nicht. Aber wenn es um Freiheit oder Bevormundung geht, dann gibt es keinen Zweifel: Dann ist er doch ein Liberaler.
Sinns öffentliches Wirken deckt sich mit den wirtschaftspolitischen Höhepunkten des zurückliegenden Vierteljahrhunderts. Sein 1991 erschienenes Buch „Kaltstart“, eine Abrechnung von ihm und seiner Frau mit den wirtschaftspolitischen Fehlern der Wiedervereinigung, war der Startschuss für den öffentlichen Sinn. „Das Primat der Politik gegenüber den ökonomischen Gesetzen führte bei der Vereinigungspolitik zu den absehbaren Problemen. Jetzt wollen viele die Dinge schönreden. Aber wo endet ein Land, das nicht einmal in der Lage ist, die Realität zu erkennen?“ Dieselbe Frage stellt Hans-Werner Sinn heute auch für Europa. „Sie sind dabei, die Fehler zu wiederholen, die Deutschland nach der Wiedervereinigung gemacht hat. Die Haltung, das werde sich schon einpendeln, nannte man Primat der Politik. Aber nichts pendelte sich ein - im Gegenteil.“ In der Euro-Krise wurde er zur internationalen Stimme deutscher Ökonomen, die gegen die Vergemeinschaftung von Staatsschulden und gegen die überlockere Geldpolitik kämpfen.
Sinn mischte auch in der Rentendebatte der neunziger Jahre mit. Er lehnte zwar einen vollständigen Übergang vom Umlageverfahren zur kapitalgedeckten Vorsorge ab, doch die spätere Sparförderung für die kapitalgedeckte Riester-Rente ging auf seine Vorschläge zurück. Er setzt sich dafür ein, das Großziehen von Kindern in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. In einem die Gemüter bewegenden Artikel in der F.A.Z. plädierte er im Juni 2005 für die Einführung einer Kinderrente, also für eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rentenleistung. Zur Begründung schrieb er: „Die drei klassischen Motive für Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Bevölkerung und die Sicherung der Renten hinreichende Kinderzahl zu gewährleisten.“ Weil er sich treu bleibt, befürwortet er die Mütterrente der großen Koalition.
Auch in der Arbeits- und Sozialpolitik denkt Sinn pragmatisch, nicht dogmatisch und beweist mit seinem legendären Buch von 2003 - „Ist Deutschland noch zu retten?“ - Mut zu unbequemen Wahrheiten: „Es muss weniger staatliches Geld fürs Nichtstun geben und mehr fürs Mitmachen.“ Seine Ideen wurden von wissenschaftlichen Mitstreitern wie dem Sachverständigenrat aufgenommen, sie bildeten sogar den Kern der Hartz-Reformen und der Agenda 2010. „Von solchen Erfolgen kann man als Ökonom nur träumen“, bescheinigt ihm Wolfgang Wiegard, der damalige Vorsitzende der Wirtschaftsweisen. Am 7. März feiert Hans-Werner Sinn seinen 70. Geburtstag.
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