Geradlinig, streitlustig, unkonventionell: Kein Wissenschaftler polarisiert wie Hans-Werner Sinn. Bei seiner Abschiedsvorlesung zeigt er noch einmal alles, wofür seine Anhänger ihn lieben - und seine Gegner ihn verachten.
Als Hans-Werner Sinn die Bühne betritt, blickt er auf eine überfüllte Aula. Mehr als tausend Menschen sind gekommen, um ihn zu hören. Ein Andrang wie bei einem Popstar - nur dass die Fans etwas älter sind, dunkle Anzüge tragen und nicht mehr 90 Minuten lang stehen können.
Das ist sein Publikum. Viele ältere Herren, auch ein paar jüngere. Konservativ, besorgt. Sie hängen an seinen Lippen, wenn er ihnen erzählt, wie das so war mit ihm und dem letzten halben Jahrhundert. Und wenn er ihnen sagt, warum das alles so schwierig wird mit der Zukunft.
Es ist Sinns Abschiedsvorlesung als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er mehr als 20 Jahre gelehrt hat. Anfang März wird er 68 Jahre alt, kurz darauf, zum Monatsende, soll er auch als Präsident des Ifo-Instituts abtreten, nach 17 Jahren.
Sinn ist eine herausragende Figur in Deutschland. Es gibt keinen zweiten Ökonomen, dessen Thesen so durchdringen wie seine. Ob Eurokrise, Flüchtlinge oder Mindestlohn - jeder, der irgendwann mal eine Talkshow zu einem wirtschaftlichen Thema im Fernsehen angeschaut hat, kennt den Mann mit dem Käpt'n-Ahab-Bart.
Und wer Sinn einmal erlebt hat, weiß, der Mann ist ein Missionar, ein Prediger der ökonomischen Gesetze: Angebot und Nachfrage, rationale Entscheidungen - das ist sein Evangelium, mit dem er so ziemlich alles zwischen Himmel und Erde erklären kann. Er will seine Botschaft unters Volk bringen. Und er schafft es wie kein zweiter Wissenschaftler, die oft komplizierten Wirtschaftsthemen so zu vereinfachen und zuzuspitzen, dass fast jeder sich angesprochen fühlt - irgendwie.
Für seine Abschiedsvorlesung hat er sich denn auch nicht weniger vorgenommen als ein halbes Jahrhundert deutsche Wirtschaftsgeschichte, erklärt in 90 Minuten. Bei Sinn geht so was - und das auch noch ziemlich unterhaltsam.
So erzählt der Professor, wie er als 13-Jähriger am Vorabend des Mauerbaus Tante Lieschen in Ostberlin besuchte und schon den Stacheldraht vor dem Brandenburger Tor sah. Und wie er später nach einem Besuch bei Onkel Günther im Erzgebirge den Untergang der DDR vorausahnte.
"Wir lasen Marcuse und diskutierten bis spät in die Nacht"
Er erzählt von seiner Phase als Linker, von den Frankreich-Zeltlagern der sozialistischen Jugendorganisation Die Falken, von den Anti-Vietnamkriegsdemonstrationen mit Rudi Dutschke und seinen Jahren beim Sozialdemokratischen Hochschulbund. "Wir lasen Marcuse und diskutierten bis spät in die Nacht", berichtet Sinn - und schiebt sicherheitshalber schnell hinterher, dass dies "nicht die Zeit der freien Liebe" gewesen sei. "Dafür war alles viel zu ernst."
Zwischen all diesen persönlichen Anekdoten bekommen Sinns Zuhörer einen Crashkurs in deutscher Wirtschaftsgeschichte. Sie lernen, warum die Planwirtschaft des Kommunismus zu Gewaltherrschaft führen musste, wieso Helmut Schmidt mit seinem Staatsglauben die bundesdeutschen Schulden verdoppelte und wie sich die südeuropäischen Länder in den Euro schummelten. Alles ganz einfach, alles ganz logisch, wenn man Sinn so hört. Zweifel an der eigenen Interpretation: keine.
Seine Fans lieben ihn dafür. Endlich einer, der Klartext spricht und sich nicht in politischen Floskeln und Rücksichtnahme verliert. Doch ebenso sehr wie er für seine klaren Worte verehrt wird, wird er dafür auch angefeindet. Vor allem jene, die politisch eher links stehen, sehen mit Graus, wie Sinn jedes politische Thema durchökonomisiert und auf einfache, knallige Aussagen zurechtstutzt. "Er nutzt gern steile Thesen und hohe Zahlen - das ist sein Erfolgsrezept", sagt etwa Gerhard Schick, finanzpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. "Und viele Medien machen da gerne mit, weil sie glauben, dass es ihnen Leser und Zuschauer bringt." Dabei seien einige der verbreiteten Thesen "hoch fragwürdig".
Tatsächlich dient Sinn vielen Journalisten als perfekter Untergangsprophet. Vor wenigen Wochen erschien ein Anlegermagazin mit einem nachdenklich dreinblickenden Sinn auf dem Titelblatt. "Flüchtlingskrise, Euro-Desaster, Rentenrisiko", stand dort geschrieben. Und daneben in Großbuchstaben: "Alle werden ärmer werden!" So kann man Sinns Thesen natürlich noch weiter vereinfachen.
"Mit der Zeit immer schriller geworden"
Unter seinen Professorenkollegen kommen Sinns populärwissenschaftliche Auftritte nicht immer gut an. Die allermeisten schätzen seine wissenschaftlichen Leistungen. "Er ist für mich einer der größten Ökonomen Deutschlands", sagt Lars Feld, Wirtschaftsweiser im Sachverständigenrat der Bundesregierung und wie Sinn ein Liberaler durch und durch. Und doch schwingt bei ihm auch Kritik mit: "Was mir nicht so gefällt ist der Stil, mit dem er seine wirtschaftspolitischen Thesen in die Öffentlichkeit trägt", sagt Feld. "Da ist er mit der Zeit immer schriller geworden."
Ein anderer Ökonom, der lieber nicht genannt werden will, wird noch deutlicher: "Sinn versucht ständig, die Grenzen auszuloten und überschießt dabei häufig", sagt er. Für eine Debatte sei das hervorragend, "als Wissenschaftler bekommt man aber manchmal Bauchschmerzen".
Auch Sinns Abschiedsvorlesung kann natürlich nicht enden, ohne dass der scheidende Meister ein düsteres Bild der Zukunft zeichnet: Die gesetzliche Rente? Eine Katastrophe. Die Eurokrise? Ein Milliardenrisiko für Deutschland. Die vielen Flüchtlinge? "Funktionale Analphabeten" und damit natürlich eine Belastung. Der Mindestlohn? Fatal für den Arbeitsmarkt. Die Energiewende? Technisch eigentlich unmöglich.
"Schaffen wir das?" fragt Sinn in Anlehnung an die berühmt gewordene Parole von Bundeskanzlerin Angela Merkel - und gibt sich selbst die Antwort. Jede einzelne Aufgabe sei vielleicht noch irgendwie zu bewältigen, sagt Sinn. "Aber in der Summe glaube ich eher nicht." Am Ende bekommt er minutenlangen Beifall.
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