Deutschlands populärster Ökonom hält seine Abschiedsvorlesung. Beim Rückblick über die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte gibt Hans-Werner Sinn auch einen interessanten Einblick in seine persönliche Entwicklung.
Die DDR scheiterte an einem Antennenmast in einem kleinen Dorf im Erzgebirge. Das weiß Deutschlands - laut einem Ranking - einflussreichster Ökonom von seinem Onkel Günther. Der nämlich hat Hans-Werner Sinn einst erzählt, wie die DDR-Behörden den Bewohnern seines Heimatortes erlaubten, einen Mast zu errichten, an dem sie eine Antenne befestigten. Wie die Verwandtschaft im Erzgebirge dann im Westfernsehen sah, welchen Wohlstand und welche Freiheiten die Bundesbürger genossen, ist eine von vielen persönlichen Anekdoten, die Sinn in seine Abschiedsvorlesung an der Ludwig Maximilian Universität München einstreut. "Und das war der Beginn vom Untergang der DDR", so das Fazit des Professors zu Onkel Günthers Antenne.
Einen Rückblick über 50 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik hatte Sinn, der im März mit dann 68 Jahren den Chefposten des zur Münchener Uni gehörenden Ifo-Instituts und des Lehrstuhls für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften abgeben wird, angekündigt. Seit Wochen schon sind 800 Plätze in der Großen Aula der Uni vergeben. Sinns Abschied - auch wenn die Übergabe an seinen Nachfolger Clemens Fuest erst im kommenden März erfolgt - ist für die Institute und die Wirtschaftswissenschaften darüber hinaus eine Zäsur. Sinn ist seit mehr als 30 Jahren Professor in München. Seit 1999 leitet er das Ifo Institut, machte es von einem Sanierungsfall zur bekanntesten Wirtschaftsforschungseinrichtung in Deutschland. Mit seinen häufigen, oft streitbaren Auftritten in den Medien anvancierte Sinn zum Liebling liberal-konservativer Wirtschaftspolitiker.
Sinn widerlegt sich selbst
Zu aktuellen politischen Fragen wollte sich der sonst so streitbare Volkswirt an diesem Abend allerdings nicht äußern. Interessant wurde es dennoch aber nicht etwa deshalb, weil Sinn am Ende doch seine hinlänglich bekannte Meinung zu Griechenlandrettung, Eurokrise, Mindestlohn und Flüchtlingen wiederholte und dabei erwartbarerweise die jeweiligen Positionen der Bundesregierung kritisierte. Aufschlussreicher waren die Anekdoten und persönlichen Bemerkungen die Sinns historischen Abriss der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik begleiteten. Sie gaben einen Einblick in die Entwicklung des Weltbildes, das Sinns politische Positionen bis heute prägt: von den Ferienlagern als Jugendlicher in Frankreich - die sein Verhältnis zum westlichen Nachbarn prägten - über sein Engagement als Linker in der 68er Bewegung - für ihn "überhaupt keine Zeit der freien Liebe, sondern eine ernsthafte, viel zu ernsthafte" Bewegung - bis zur Wiedervereinigung, als Sinn vom linken Idealisten zum Ordoliberalen gereift, die Bundesregierung unter anderem bei der deutsch-deutschen Währungsunion beriet.
Zum einen machte Sinn deutlich, dass er - anders als es in den oft hitzigen politischen Debatten scheint, an denen er sich ununterbrochen beteiligt - kein gefühlsloser Kapitalist ist. Zwar hat er die Linken Positionen aus seiner Jugend abgelegt, nicht aber seinen Gerechtigkeitssinn. "Wer den Markt bejaht, muss für Umverteilung sein", betonte er. Sinn vergaß auch nicht zu erwähnen, dass seine vermeintlich harte Haltung zum Umgang mit Griechenland in weiten Teilen mit der des ehemaligen Athener Finanzministers Yanis Varoufakis übereinstimme.
Vor allem aber widerlegten die persönlichen Anekdoten Sinn selbst und viele andere Wirtschaftswissenschaftler und Experten in einem wichtigen Punkt. Denn sie zeigten, wie sehr oft als unumstößliche Wahrheiten dargestellte ökonomische Thesen tatsächlich auf subjektiven Einschätzungen beruhen. Bis heute erinnert er sich - und erzählt davon -, wie er während eines Besuchs in Ost-Berlin bei "Tante Lieschen" den Bau der Berliner Mauer hautnah miterlebte. Das hat offensichtlich seine Sicht auf die DDR und deren Wirtschaftssystem mitgeprägt.
Keine Spur von Bescheidenheit
Sinn vergaß nicht, in seinem wirtschaftshistorischen Rückblick seine jeweiligen Bücher zu den einzelnen Epochen zu erwähnen. Oft hat die Geschichte Sinn im Rückblick recht gegeben. Manchmal jedoch auch nicht - wie etwa bei seiner hochumstrittenen These von der Basarökonomie in Deutschland von 2005. Doch Sinn bleibt dabei: Seine These war und ist "die Wahrheit". Jede Kritik tut er bis heute als "falsche Naiv-Interpretationen" seines Werkes ab.
Etwas Bescheidenheit würde Sinn glaubwürdiger machen. Das gilt auch für den Ausblick, den er am Ende doch auf einige aktuelle Entwicklungen gibt. Eine verantwortungsvolle Wirtschaftspolitik mit Demokratie wirklich unvereinbar? Ist die Energiewende wirklich "unmöglich", wie er apodiktisch sagt? Dabei gibt er selbst zu, wie schwierig Prognosen sind, "denn nach vorne ist ziemlich viel Nebel".
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