SonntagsBlick, 27. Mai 2018, S. 25-27.
Hans-Werner Sinn ist einer der angesehensten deutschen Ökonomen, auch weil er seine Analysen verständlich erklären kann. Auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (SIAF) reist er nach Zürich – und zieht die Zuhörer in seinen Bann. Er benennt die Herausforderungen Europas mit brillanter Klarheit wie wenig andere. Sein Referat findet passenderweise in der Aula der Universität Zürich statt – also dort, wo Winston Churchill 1946 seine historische Rede ge-halten hatte. Zuvor trifft SonntagsBlick Professor Sinn zum Interview im Dozentenzimmer.
Was muss die Schweiz tun, damit es ihr weiterhin so gut geht?
Beharrlich bleiben bei ihren liberalen Grundsätzen und nicht versuchen, so zu werden wie Deutschland.
Das heisst?
Die Schweiz hat den Sozialstaat über Jahrzehnte hinweg ziemlich weit entwickelt. Das ist nicht die Politik, die die Schweiz stärkt. Die Steuerbelastung für normale Arbeitnehmer ist nicht mehr viel niedriger als anderswo.
Gibt es weitere Faktoren?
Der Sozialstaat soll nicht als Konkurrent der Privatwirtschaft auftreten: indem er Lohnersatz gewährt. Geld fürs Mitmachen ist besser als Geld fürs Wegbleiben. Die Schweiz hat einen im internationalen Vergleich extrem hohen Mindestlohn, aber zum Glück hat das Volk das bedingungslose Grundeinkommen abgelehnt. Es ist wichtig, dass die Schweiz ein Ort bleibt, an dem sich Anleger aus der ganzen Welt gern aufhalten. Nur so lässt sich der Lebensstandard halten.
Was ist besser: ein starker Franken wegen der billigen Importe oder ein schwacher Franken wegen der Exportindustrie?
Das Beste ist der richtige Preis. Wenn man zu teuer ist, kann man seine Produkte nicht mehr absetzen. Wenn man zu billig ist, kriegt man nicht genug dafür zurück. So wie es für eine Firma den optimalen Preis gibt, gibt es auch für eine Volkswirtschaft den richtigen Wechselkurs. Die Schweizer Nationalbank hat ja durch ihre Interventionspolitik den Preis in einem vernünftigen Rahmen gehalten.
Nun ist der Euro wieder knapp bei Fr. 1.20.
Ich will mich nicht zu den Kursen äussern. Aber die Interventionspolitik, Franken zu drucken und damit ein Vermögensportefeuille in der Welt zusammenzukaufen, war sehr sinnvoll. Die Schweiz kann auf die Vermögensbestände der Nationalbank stolz sein. Die deutsche Bundesbank hat an dieser Stelle Forderungen, die nicht verzinslich sind und die nie fällig gestellt werden können, die sogenannten Target-Forderungen. Die Schweiz aber ist die grösste Eigentümerin deutscher Staatspapiere. Von diesem Portfolio könnte sich die Schweiz in schlechten Zeiten ernähren.
Werden die Interventionen der Nationalbank am Ende zum Bombengeschäft?
Natürlich ist das ein gutes Geschäft. Wenn die Währung eines Landes attraktiv ist, kann man Papier gegen echte Vermögenstitel tauschen. Das haben die Amerikaner in der Nachkriegszeit ebenfalls getan.
Das ist aber auch ein Eingriff in die freie Wirtschaft.
Ein Wechselkursregime zu haben, ist nicht illiberal. Wenn sich die ganze Welt auf den Schweizer Franken stürzt, muss die Nationalbank handeln.
Die Schweiz steht im Clinch mit der EU. Wird Grossbritannien zum Verbündeten?
Für die Schweiz ist der Brexit ein Vorteil, ja. Norwegen, Grossbritannien und Liechtenstein sind in einer ähnlichen Situation wie die Schweiz. Die Position der Schweiz ist politisch gestärkt worden.
Viele gehen davon aus, dass es für die Schweiz noch schwieriger wird, weil die EU der Schweiz nichts zugestehen kann, was sie Grossbritannien nicht auch gibt.
Mag sein. Aber Grossbritannien hat mehr Muskeln als die Schweiz. Und die EU muss aufpassen, dass ausserhalb ihrer Mauern nicht ein neues Staatengebilde entsteht. Deshalb muss sie diese Länder einbinden und Freihandel zulassen. Manche in der EU haben die Vorstellung, man müsse Grossbritannien bestrafen, damit es keine Nachahmer gibt. Da würde man sich ins eigene Fleisch schneiden.
Wird es denn Nachahmer geben?
Gefahren gibt es. In Osteuropa haben wir die Bestrebungen, eigenständiger zu werden. Lega und Cinque Stelle liebäugeln offen mit einer Parallelwährung. Das ist der erste Schritt zum Austritt aus dem Euro.
Wie wird der Brexit konkret vollzogen?
Möglich ist, dass eine Handelsunion mit Grossbritannien gegründet wird. Die Briten möchten Freihandel ohne Zölle. Die EU sagt: Könnt ihr gerne haben, dann machen wir eine Handelsunion. Das bedeutet für die Briten wiederum, dass sie nicht in der Lage sind, mit Drittländern frei Verträge abzuschliessen. Wie das Problem gelöst wird, weiss ich nicht.
Was empfehlen Sie?
Ich wäre grosszügig und würde den Briten weitgehend Zollfreiheiten gewähren, auch wenn sie nicht in eine Handelsunion eintreten. Und trotzdem den Freihandel mit Drittländern gewähren, auch wenn das bedeutet, dass Produkte über Grossbritannien in die EU zollfrei eingeführt werden. So what – das ist günstiger für die Konsumenten. Zölle sind ohnehin nie etwas Gutes. Sie zeigen vielmehr, dass Politiker nicht an das Volkswohl den-ken, sondern an einzelne Branchen. Industrien werden geschützt – Kunden zahlen höhere Preise.
Sind tiefere Preise erstrebenswerter, als Arbeitsplätze mit Zöllen zu erhalten?
Natürlich. Der Erhalt von Arbeitsplätzen, die im internationalen Markt nicht bestehen, schadet einem Land. Es wäre klüger, diese Arbeitsplätze aufzugeben und andere Sektoren zu entwickeln, die eine bessere Wettbewerbsposition haben. Das ist Sinn und Zweck des Freihandels – das lernt jeder Wirtschaftsstudent. Und die Politik macht es trotzdem nicht (lacht)!
Wie wird der Alleingang für Grossbritannien ausgehen?
Die Briten schaden sich mit dem Austritt gewaltig. Aber die Schäden sind nicht gleichmässig verteilt. Die Londoner City mit ihrem Bankenplatz wird leiden, weil sie bestimmte Geschäfte nicht mehr machen kann. Aber es wird auch Gewinner geben.
Nämlich?
In den alten Industriegebieten, die von der City und dem Bankenwesen weggedrückt wurden. Seit dem EU-Beitritt 1973 hat sich der Finanzsektor überproportional entwickelt. Dadurch wurde das Pfund aufgewertet, und das machte die Industrien kaputt. Wenn die Bankbranche nun schrumpft und das Pfund an Wert verliert, dann können die alten Industrien mit neuen Produkten wiederauferstehen.
Das wäre ja wunderbar!
Das heisst nicht, dass das per Saldo zum Vorteil der Briten ist, es ist lediglich ein Vorteil für diese Sektoren. Dieser wird nicht den Nachteil der City ausgleichen. Aber es ist nicht schwarz und weiss.
Falls es Grossbritannien tatsächlich schlechter gehen sollte, dann wird eines Tages eine Mehrheit zurück in die EU wollen.
Nicht unbedingt. In den Industriegebieten ist ein Groll gegen die City entstanden. Wenn das Rad nun zurückgedreht wird, ist diese Bevölkerungsschicht glücklich. Wenn es vielen ein bisschen besser geht und wenigen sehr viel schlechter: Dann ist diese Lösung politisch stabil. Aber ich bin kein Hellseher. Derzeit läuft alles total chaotisch. Wenn die Labour-Regierung wieder an die Macht kommt, dann ist alles möglich, selbst ein zweites Referendum.
Was bedeutet der Brexit für die EU?
Eine Ländergruppe, die 35 Prozent der Bevölkerung ausmacht, kann im Ministerrat der EU nicht überstimmt werden. Heute vereint die nördliche Bevölkerung 39, die mediterrane 38 Prozent. Ohne die Briten verschiebt sich das auf 30 zu 43 Prozent. Damit fällt erstens die Sperrminorität des Nordens weg, zweitens ist der Süden protektionistischer. Das bedeutete eine deutliche Machtverschiebung.
Mit welchen Folgen?
Weil die Mehrheit der Länder, die in Brüssel das Sagen haben, eher schwache Wettbewerbspositionen haben, ist ein Weg in den Protektionismus zu befürchten.
Gleichzeitig gibt es nationalistische Tendenzen in Osteuropa. Woher kommen die?
Das ist eine Reaktion auf den Misserfolg des Euro-Systems der vergangenen Jahre. Solange alles gut läuft, gibt es keine Gegenreaktion. Kombiniert mit einem intensiven Machtanspruch der Brüsseler Zentrale, ruft das Aversionen hervor.
Was ist zu tun?
Helmut Kohl sagte in einem seiner letzten Interviews, die EU solle mal etwas langsamer treten und sich neu orientieren. Passiert ist das Gegenteil: Das Subsidiaritätsprinzip wird schon lange verletzt, indem in Brüssel alles Mögliche beschlossen wird, was in die einzelnen Länder hineinwirkt. Nehmen Sie die Diskussion um die Stickoxide: Brüssel will deutsche Städte dazu veranlassen, Diesel-Autos draussen zu lassen. Dabei sind das lokale Probleme, die nichts mit Europa zu tun haben. Das ist bei der CO2-Diskussion etwas anderes, weil sich CO2 im Gegensatz zu Stickoxid global in der Atmosphäre vermischt.
Was soll die EU zentral entscheiden, was nicht?
Grenzüberschreitende Probleme wie Verkehrswege, Flüchtlings- und Aussenpolitik, eine gemeinsame Armee. Die EU sollte mal schauen, wie die Schweiz entstanden ist. Die Schweiz brauchte 500 Jahre, um zusammenzufinden, und hat allmählich Frieden geschaffen zwischen den Kantonen, bis zur Staatsgründung. Die EU versucht das Umgekehrte. Sie besteht aus verschiedenen Staaten mit eigenen Armeen und hat schon eine eigene Währung. Das ist der falsche Weg. Wir sollten uns auf die gemeinsamen Aufgaben Europas konzentrieren, und da steht eine gemeinsame Armee an allererster Stelle.
Die westlichen Demokratien sind unter Druck. Manche schielen neidisch auf autoritäre Staaten, weil dort alles schneller geht. Welches politische System ist das beste?
Aus ökonomischer Sicht der wohlmeinende Diktator. Nur gibts den nicht. Deshalb muss man mit der Demokratie als zweitbeste Lösung vorliebnehmen (lacht).
China holt massiv auf. Werden sie uns überholen?
China ist in der Phase des Anpassungswachstums, vergleichbar mit dem deutschen Wirtschaftswunder nach dem Krieg. Wenn man Freihandel hat und gleichzeitig mit niedrigen Löhnen im Weltmarkt integriert ist, dann wächst man wie der Teufel. Sobald das Lohnniveau angepasst ist, hört das auf. Das wird auch in China so sein. Aber China wird den Westen dann wegen seiner schieren Bevölkerungsgrösse überholt haben.
2008 schlitterten wir mit der Bankenkrise knapp am Kollaps vorbei. Wo stehen wir heute?
Das System ist extrem empfindlich gegenüber weiteren Krisen. Mit tiefen Zinsen und expansiver Geldpolitik kann man Krisen aufhalten. Wenn die Zinsen bei null sind, hört es aber auf. Nun, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Man kann das Bargeld abschaffen. Dann steht der Weg in den negativen Zinsbereich zur Verfügung. Ich kann mir heute alles vorstellen. Denn in der Vergangenheit sind auch unerfreuliche Dinge eingetroffen, die ich für unwahrscheinlich hielt.
Die neue italienische Regierung plant ein Grundeinkommen, einen Ausbau des Sozialstaats – und gleichzeitig Steuersenkungen. Steht uns die nächste Euro-Krise ins Haus?
Sie hat längst begonnen. Luigi Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung und Matteo Salvini von der Lega schüren den Konflikt mit Deutschland und der EU, um mehr Geld zu bekommen oder Deutschland den schwarzen Peter für den italienischen Austritt zuweisen zu können. Die Spreads steigen sehr deutlich, der Euro verliert an Wert. Die angekündigte Politik ist unvereinbar mit der Mitgliedschaft im Euro. Ich kann sie aber nachvollziehen und will keine Vorwürfe machen, denn es gibt objektiv nur vier Möglichkeiten für Italien.
Ja, was kann Italien tun?
Erstens, das Land wird billiger, aber das gelingt nicht. Zweitens, Deutschland wird teurer. Das versucht die Europäische Zentralbank zu erreichen, doch mit mässigem Erfolg. Drittens, die Eurozone wird zu einer Transferunion. Oder viertens: Italien tritt aus und wertet ab. Es geht heute nur noch um die beiden letzten Varianten. Salvini und Di Maio haben das richtig erkannt, und nun müssen die Träumer in Brüssel und Frankfurt allmählich aufwachen und sich mit der ökonomischen Realität beschäftigen.
Muss Italien aus dem Euro ausgeschlossen werden?
Nein. Die Entscheidung liegt bei Italien selbst. Es kann aber nicht sein, dass man die Länder, die im Euro nicht wettbewerbsfähig sind, mit Geldmitteln unterstützt. Eine Transferunion läge auch nicht wirklich im Interesse Italiens. Ganz Italien würde dann zum Mezzogiorno. Es hinge dauernd am Tropf, ohne jemals wieder auf die Beine zu kommen.
Braucht es Neuwahlen?
Wenn Präsident Sergio Mattarella die neue Regierung nicht bestätigt, ja. Dann erhält Salvini mit der Lega vielleicht 25 Prozent.
Das Interview führte Christian Dorer.