Tichys Einblick, Februar 2018, S. 18-21.
Daumen rauf oder Daumen runter für die Konjunktur 2018?
Die deutsche Wirtschaft erlebt derzeit eine doppeltes Konjunkturhoch. Da ist zum einen die Bauwirtschaft und alles, was damit zusammenhängt: Viele Anleger flüchten in Immobilien, weil sie keine andere rentable Anlageform kennen. Die niedrigen Zinsen erlauben auch die Finanzierung von Vorhaben, die man sich sonst nicht leisten könnte. Das ist die eine Schubkraft. Die andere ist die zweifache Unterbewertung der deutschen Waren. Zum einen ist der Euro, wenn man den Durchschnitt der im Euroraum produzierten Waren zugrunde legt, gegenüber den Nichteuroländern um circa zehn Prozent unterbewertet. Das treibt die deutsche Exportwirtschaft zu immer neuen Rekorden. Zum anderen sind aber Produkte aus Deutschland im Vergleich zu den Produkten der Europartnerländer zu billig und deshalb dort begehrt. Diese Länder haben nach der Einführung des Euro mithilfe von Krediten Lohnerhöhungen jenseits der Produktivitätsentwicklung durchgesetzt und wurden dadurch immer teurer, Deutschland somit relativ immer billiger. In der Summe bedeutet das eine Unterbewertung Deutschlands gegenüber den Nichteuroländern von 25 bis 30 Prozent. Bau und Exporte – das treibt die Konjunktur.
Klingt nach einer wahren Gewinnerkoalition …
Für die Exportwirtschaft schon, darum verteidigen die Unternehmen den Euro ja auch so verbissen. Deutschland besteht aber nicht nur aus Exportunternehmen. Insgesamt gesehen bedeutet die Unterbewertung einen Realeinkommensverlust für die Deutschen, denn sie müssen die Importe von Waren, von Energie und von touristischen Dienstleistungen sehr teuer bezahlen. Die Realeinkommen würden im Durchschnitt nach einer Aufwertung steigen, obwohl es der Exportwirtschaft dann etwas schlechter ginge. Und dann bitte nicht vergessen: Die Sparer zahlen über die Nullzinsen für den Boom. Das ist eine gewaltige Umverteilungsmaschine: Die Sparer und die Arbeitnehmer verlieren, dagegen gewinnen Staat, Exportindustrie, Immobilienbesitzer und Aktionäre. Per saldo verliert Deutschland durch die niedrigen Zinsen, weil es wegen seiner Exportüberschüsse das Land mit dem größten Nettoauslandsvermögen nach Japan ist.
Gleichen sich diese Asymmetrien nicht schnell aus in offenen Märkten?
Das funktioniert nur bedingt. Die an der Produktivität gemessen zu hohen Löhne in den südeuropäischen Ländern sinken nicht oder zu langsam. Deshalb sind dort so viele Industriebetriebe untergegangen und haben ihre Produktion gedrosselt. Das sieht man am verarbeitenden Gewerbe in diesen Ländern: Die Produktion in Italien liegt immer noch um 19 Prozent unter der des Jahres 2007, in Frankreich um zwölf Prozent darunter, in Spanien um 23 Prozent. Mit einer noch weiteren Abwertung wäre das schnell zu lösen, aber dann würde der Lebensstandard in Deutschland noch weiter unter das mögliche Niveau, das bei korrekten Preisrelationen erreichbar wäre, gedrückt werden. Es sind einfach die Verzerrungen, die durch eine einheitliche Währung nicht mehr ausgeglichen werden können und jetzt in Deutschland zwar zum Boom, aber doch zu mäßigen Realeinkommen und in den südeuropäischen Ländern und Frankreich zu anhaltenden Wettbewerbsproblemen geführt haben. Die Wettbewerbsprobleme des Südens gleichen wir durch öffentliche Rettungskredite und echte Geldtransfers aus, was im Nebeneffekt die Nachfrage nach deutschen Exportprodukten hoch hält. Das erklärt auch, warum die Wirtschaftsverbände so verärgert sind über Christian Lindner und seine Absage an die Jamaika-Koalition: Christian Lindner will den europäischen Stabilitätsmechanismus nicht weiter ausbauen, der frisches Geld in den Süden leiten soll, um diesen künstlichen und für die Deutschen extrem teuren Exporterfolg weiter zu unterstützen. Das findet die Industrie nicht so toll, sie will einfach weiter kurzfristig Exporterfolge und schert sich nicht darum, wenn andere Deutsche ihn bezahlen müssen.
Die Exportindustrie mag offenbar auch die Europäische Zentralbank, weil die EZB den angeschlagenen Volkswirtschaften über das Anleihekaufprogramm und Nullzinsen Kaufkraft zuführt.
Das Anleihekaufprogramm bewirkt, dass sich die Staaten Südeuropas weiterhin verschulden können und mit dem geliehenen Geld ihre binnenwirtschaftliche Nachfrage wie auch die Nachfrage nach deutschen Waren aufrechterhalten. Davon profitieren der lokale Bau und das lokale Handwerk dieser Länder, doch hat die dortige Industrie wenig davon, weil die Staatsfinanzierung aus der Druckerpresse die Renten und Beamtengehälter und damit indirekt das gesamte Lohnniveau hoch halten. Deshalb versucht die EZB freilich, auch in Deutschland Gas zu geben, um das Land nachzuinflationieren. Aber das dauert, denn bei einer Inflationsrate von vier bis 4,5 Prozent würde ein Ausgleich zehn Jahre dauern, selbst wenn der Süden nicht mitinflatio- nieren würde. Deutschland ist wie ein schwerer Tanker, der wegen ein paar Geldspritzen nicht seinen Kurs ändert.
Das Inflationsziel der EZB liegt bei zwei Prozent, nicht bei vier oder 4,5 ...
Die EZB ist längst zu einem europaweit durchschnittlichen Inflationsziel übergegangen. Sie hofft, dass der Süden bei der deutschen Inflation, die man anstrebt, nicht mitmacht, sodass wir im Durchschnitt unter zwei Prozent landen. Ich befürchte allerdings, dass der Süden nicht so genügsam sein wird, wie es sich die EZB vielleicht erhofft. Dann führt dieser Weg letztlich gar nicht zum Ziel.
Müsste die EZB die Zinsen noch weiter absenken?
Die Zinsen sind bei null, und tiefer geht es kaum, weil sonst Banken wie Private ihr Geld bar horten würden, um den Negativzins zu umgehen. Solange es Bargeld gibt, kann es keine Negativzinsen in großem Umfang geben. Daher wird das Bargeld ja auch bekämpft, und im ersten Schritt hat man schon mal die großen Scheine abgeschafft und will jetzt die erlaubte Höchstgrenze für Barzahlungen absenken. Dabei braucht Deutschland keine Nullzinsen; die deutsche Wirtschaft könnte einen Zins- anstieg gut verkraften. Nur die hoch verschuldeten Südländer in Europa kämen in eine Haushaltskrise, weil sie die Zinsen einfach nicht mehr zahlen können. Es sind die deutschen Sparer, die in dieser Konstellation draufzahlen.
Nun hat der französische Präsident Macron einen europäischen Haushalt und einen europäischen Finanzminister ins Spiel gebracht. Beides gilt für viele in Deutschland als wichtiger Schritt für eine modernisierte EU.
Macrons Forderungen sind aus seiner Sicht richtig: Zur Kompensation der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit soll Südeuropa deutsches Geld erhalten. Er verbrämt diese einfache Tatsache mit allerlei komplexen Scheinargumenten. Das frische Geld sichert zwar kurzfristig die Sozialhaushalte und Staatsfinanzen in den südlichen Ländern, aber das eigentliche Übel, die geringe Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Industrien, wird nicht beseitigt, sondern perpetuiert. Letztlich würde Europa das Modell Italiens übernehmen: Der Norden ist extrem wettbewerbsfähig und subventioniert den Mezzogiorno. 40 Prozent der dortigen Einkommen stammen aus Nord-Süd-Transfers. Weil er das aber tut, bleibt der Süden auf ewig zu teuer und wird nie wieder wettbewerbsfähig. Der Norden fühlt sich ausgenommen, und Parteien wie die Lega Nord organisieren den politischen Widerstand bis hin zur staatlichen Trennung. Und der Süden ist auch nicht zufrieden mit seiner Rolle als von der Bettelei abhängiges Armenhaus mit einer staatlich finanzierten Massenarbeitslosigkeit.
Wer wären denn dann die Geberländer im Macron-Modell? Deutschland, Niederlande, Österreich?
Ja, das sind die Länder, die zahlen sollen. Vermutlich würde Frankreich pro forma auch noch ein bisschen französisches Geld beisteuern. Das Ganze ist nicht nur ein Nord-Süd-Konflikt innerhalb der EU, sondern auch ein Ost-WestKonflikt. Länder wie Tschechien, Polen, Slowenien, Slowakei und Ungarn setzen alles daran, wettbewerbsfähig zu werden, und muten ihrer Bevölkerung ziemlich viel zu. Sie haben schon bei der Griechenland-Rettung dagegen protestiert, dass sie gezwungen wurden, die viel wohlhabenderen Griechen zu subventionieren. Sie wollen beim Euro partout nicht mitmachen, und weil das so ist, bedeutet Macrons Versuch, den Euroraum zu mehr Staatlichkeit zu verdichten, eine Spaltung der EU.
Eine solche Abspaltung wäre aber eine Zerschlagung Europas. Immerhin wurde mit Rumänien und Bulgarien die Osterweiterung begonnen.
Gegen Rumänien hat Frankreich ja auch nichts, dort ist die französische Industrie wie beispielsweise Renault stark investiert. Rumänien, Bulgarien und Kroatien wollen auch den Euro einführen, weil ihre Bevölkerung sich bereits über beide Ohren in Euro verschuldet hat und sie nun die Eurodruckerpresse brauchen, um die Schulden zu bedienen. Aber die Tschechen, Ungarn und Polen wollen nicht mitmachen, und die Skandinavier im Übrigen auch nicht. Kommt Macron mit seinen Plänen durch, gerät Deutschland in eine Randlage, in der es gebraucht wird, um Frankreichs Hinterland in Südeuropa zu finanzieren.
Sie sehen Macron als Spalter Europas?
Teils, teils. Wenn sich seine Politik auf eine Erweiterung der Eurozone bezieht und ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, dann ja. Denn das ist nichts anderes als die Vorbereitung oder Vertiefung einer Spaltung. Das halte ich für gefährlich. Andererseits begrüße ich die staatliche Verdichtung der EU im Verteidigungsbereich, weil sie Osteuropa einschließt. Macron hat die seit 1954 geltende Doktrin Frankreichs aufgegeben, wonach eine Europäische Verteidigungsunion niemals infrage käme. Das finde ich richtig; wer ein starkes Europa will, muss doch die zersplitterten Streitkräfte zusammenführen. Macron will eine starke EU-Asylpolitik, und zwar nach französischem Muster. Frankreich verhindert die Zuwanderung durch eine strikte Kontrolle seiner Außengrenze. Wer von Italien nach Frankreich will, muss durchs Mittelmeer kommen. Und Macron will, dass die Asylentscheidung in Libyen getroffen wird, nicht etwa in irgendeiner Kreisstadt in Deutschland, die einen Asylbewerber, der nicht anerkannt wurde, nie mehr abschieben kann. Deshalb folge ich ihm hier. Ich bin für eine staatliche Vertiefung der EU, aber gegen Maßnahmen, die speziell auf die Eurozone abstellen wie Eurobonds, Europäischer Stabilitätsmechanismus und Eurofinanzminister.
Macron hat also Visionen, und Merkel?
Vielleicht weil er noch so jung ist, hat Macron mutige Visionen. Er will ja wohl auch Großbritannien entsorgen, denn dieses Land stört seine Pläne nur. Wiederum gibt es von Berlin keinen Widerstand, sondern nur Phlegma. Die Kanzlerin mogelt sich nun schon jahrelang einfach so durch und wird ohne eigenen Plan von anderen getrieben, die klare Vorstellungen davon haben, wohin sich Europa entwickeln soll. Wer auf Sicht fährt, wie es die Kanzlerin ostentativ tut, kann sich schnell verfahren. Finanzminister Schäuble besaß Weitblick, er wollte zum Beispiel bei Griechenland einen neuen Kurs einschlagen und einen Austritt nebst Abwertung statt immer wieder neuer Geldgeschenke, doch dabei fuhr ihm die Kanzlerin in die Parade. Schäuble ist nun leider nicht mehr in der Regierung.
Braucht Deutschland also schnell wieder eine handlungsfähige Regierung statt einer nur „geschäftsführenden“?
Nein, weil eine handlungsfähige Regierung, die dann eine Große Koalition wäre, in den Hinterzimmern der EU bei langen Nachtsitzungen wieder und wieder nachgeben würde. Paradoxerweise gilt: Eine scheinbar nicht so handlungsfähige Minderheitsregierung, die sich vor einer Zustimmung gegenüber weiteren Begehrlichkeiten unserer europäischen Partner erst Rückendeckung im Parlament holen müsste, wäre faktisch sehr viel stärker, weil die Partner auf die Bedenken des Parlaments Rücksicht nehmen müssten. Die Schwäche der Regierung bedeutet eine Stärkung des Parlaments und damit auch der deutschen Verhandlungsposition. In Europa erhält immer der Letzte, der zustimmt, die höchsten Konzessionen. Das hat man im Fall Irland gesehen, wo eine Volksabstimmung über das Lissabon-Abkommen abgehalten werden musste: Das Abkommen war am Ende extrem Irland-freundlich, um nur ja die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen. Eine schwächere Regierung hätte 2015 im Übrigen nicht einfach ihre katastrophale Flüchtlingspolitik durchsetzen können, sondern hätte die Maßnahmen im Parlament beschließen lassen müssen und wäre dort gebremst worden. Nur eine Minderheitsregierung schützt uns vor einer weiteren Entmündigung des Parlaments und damit auch vor Macrons Umverteilungswünschen. Europa ist kein Ponyhof, sondern von knallharten Interessengegensätzen geprägt, die die Regierung nicht allein entscheiden darf.
Das Interview führte Roland Tichy.