Tichys Einblick, 31. März 2018
Sozialstaaten können ihre Versicherungsfunktion nur dann ausführen, wenn das Versicherungskollektiv – also die Bürger des Staates – nicht durch den fortwährenden Zustrom sogenannter schlechter Risiken belastet wird. Das ist ein Thema, das ich bereits in den 1990er-Jahren in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Aufsätzen beleuchtet habe, weil es damals wegen des Falls des Eisernen Vorhangs eine Migrationswelle aus Osteuropa gab und es mich interessierte, wie man mit diesen Migrationen ökonomisch betrachtet am besten umgeht. (…)
Angesichts der neuen Wellen von Wirtschafts- und Sozialmigranten, die sich nach der Gewährleistung des Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit aus den osteuropäischen Ländern in den Jahren 2011 bis 2015 und aufgrund der Willkommenspolitik der Bundeskanzlerin speziell im Jahr 2015 ergaben, habe ich meine wissenschaftlichen Erkenntnisse von damals in Form von Zeitungsartikeln und öffentlichen Vorlesungen in den letzten Jahren nochmals wiederholt und mit Blick auf die Aktualität konturiert.
Die EU definiert im Hinblick auf die Migration im Wesentlichen drei Ziele. Sie will innerhalb ihrer Grenzen die freie Wohnsitzwahl für alle EU-Bürger erlauben, also die Freizügigkeit gewährleisten. Sie will, dass die EU-Länder Sozialstaaten sind, also Versicherungsschutz im oben [im vorangegangenen Kapitel, Anm. d. Red.] beschriebenen Sinn anbieten. Und sie will EU-Migranten rasch in das Sozialsystem des Gastlandes integrieren, wie es durch das sogenannte Inklusionsprinzip im Lissabon-Vertrag festgelegt ist. Diese drei Ziele bilden ein unlösbares Trilemma.
Wenn man den Prozess der EU-Binnenmigration bei vollgültigem Inklusionsrecht weiterhin so laufen lässt, wie er derzeit angelegt ist, werden sich die Armen mehr und mehr in den besser ausgestatteten Sozialstaaten sammeln und diese finanziell erodieren. Um das zu verhindern, kann man entweder die Freizügigkeit begrenzen oder das Inklusionsprinzip aufgeben. Keinesfalls lassen sich alle drei Ziele gemeinsam realisieren. Die besser ausgestatteten Sozialstaaten werden dann ihre Leistungen auf das Niveau der Nachbarstaaten reduzieren, um die Magnetwirkung für arme EU-Wirtschaftsmigranten auszuschalten. In der Folge werden sich aber auch diese Nachbarstaaten verstärkt bemühen, weniger Sozialleistungen anzubieten, um nicht selbst zum Ziel von immer mehr armen EU-Wirtschaftsmigranten zu werden. Das wiederum wird zu einem Wettbewerb der EU-Sozialstaaten „nach unten“ führen, einem race to the bottom, wie man auch sagt. Verlierer dieses Wettbewerbs werden am Ende vor allem die bisherigen Empfänger von Sozialleistungen in den ursprünglich besser ausgestatteten EU-Staaten sein, aber eben nicht nur sie.
Um solche Entwicklungen zu verhindern und den Sozialstaat zu schützen, muss man eines der beiden anderen Ziele, also entweder die Freizügigkeit oder die soziale Inklusion einschränken. Aber welches?
Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist ein hohes Gut und sollte nicht angetastet werden. Das zweifellos am wenigsten schutzwürdige Ziel ist für mich das Inklusionsziel. Denn was spricht dagegen, dass statt des EU-Gastlandes das EU-Heimatland für Sozialleistungen zuständig bleibt? (…) Konkret würde ich die Leistungen des Sozialstaates in erarbeitete und ererbte Ansprüche unterteilen. Erarbeitete Ansprüche sind solche, die man selbst gewissermaßen durch Steuern oder Beiträge bezahlt hat, also Ansprüche aus der Renten-, der Unfall-, der Arbeitslosen- und der Krankenversicherung. Ererbte Ansprüche hingegen sind solche, die nicht erarbeitet wurden und die mit der Grundsicherung zu tun haben, die jeder genießen darf, wenn er nicht oder noch nicht arbeiten kann. Dazu würde zum Beispiel die Sozialhilfe (im Sinne einer Hilfe für den Lebensunterhalt), das Kindergeld oder auch die Hartz-IV-Hilfe (…) gehören, soweit man sie sich noch nicht im Gastland hat erarbeiten können. Die erarbeiteten Ansprüche sollten vom Gastland gewährt werden und die ererbten Ansprüche vom EU-Heimatland.
Selbstredend gilt diese Regel nicht für politisch Verfolgte, die aus Drittländern kommen, die sich definitionsgemäß ihrer nicht annehmen würden. Sie müssen im Gastland versorgt werden. Grundsätzlich sollten die Menschen die Möglichkeit erhalten, sowohl die ererbten als auch die erarbeiteten Sozialleistungen in einem beliebigen Land ihrer Wahl zu konsumieren, nur dass eben das Aufenthaltsland nicht wegen der bloßen Wohnsitzwahl in die Pflicht genommen werden kann. Insofern bleibt die Freizügigkeit bei meinem Vorschlag vollständig erhalten. Vor allem aber bleiben die Sozialstaaten intakt. Mit meinem Vorschlag werden sie primär vor der Immigration sogenannter schlechter Risiken sowie sekundär auch vor einem langfristig ruinösen Leistungswettbewerb „nach unten“ geschützt. (…)
Mir war und ist es sehr ernst mit diesem Thema, und ich habe mir schon sehr früh quasi die Finger wund geschrieben, um Politik und Öffentlichkeit auf die offenkundigen Konstruktionsfehler der Europäischen Union mit Blick auf Binnenmigration und Sozialstaatserosion hinzuweisen. Während ich in der Wissenschaft sehr viel Resonanz auf meine Überlegungen und Vorschläge erhielt – einer der Artikel zu diesem Thema gehört bis heute zur Gruppe meiner meistzitierten –, wollte die Politik von der Magnetwirkung des Sozialstaates sehr lange nichts wissen. (…)
Tatsächlich kann man die Sozialmigration heute nicht mehr bestreiten. Warum, wenn nicht aus ökonomischen Gründen, sollten Menschen aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland wandern? Sie kommen doch nicht, weil das Wetter hier schöner ist, sondern weil sie hier einen höheren Lebensstandard genießen, als es zu Hause möglich ist. Dieser höhere Lebensstandard ist nun aber auch durch die Umverteilungsgeschenke des deutschen Sozialstaates, also des EU-Gastlandes, zu erklären. Er wird zum einen bestimmt durch das Arbeitseinkommen, das man hier verdient, und zum anderen durch den Zuschlag, den der Sozialstaat in Form von Geld und Sachleistungen gewährt, sowie (…) durch das Potpourri an staatlichen Infrastruktur-, Schul- und Verwaltungsleistungen, die ein Migrant quasi umsonst erhält und zu deren Finanzierung durch Steuern er als Geringverdiener wegen des progressiven Steuersystems mit hohen Freibeträgen kaum etwas beitragen muss.
Zu behaupten, dass nur der Lohn, nicht aber die Umverteilungsgeschenke, die Teil dieser Summe sind, die Migration erklärt, wäre nachgerade absurd. Es kommt natürlich auf die Summe aller Leistungen an, die den Lebensstandard bestimmen. Von manchen, denen diese Argumentation missfällt, wird gesagt, die Leute aus anderen EU-Ländern kämen ja nicht, um sich hier auf die faule Haut zu legen, sondern um zu arbeiten. Wohl wahr: Natürlich kommen sie, weil sie arbeiten wollen. Aber welch eine gefährliche Einfachheit steckt doch in dieser Aussage. Ob Migranten dem Staat nützen oder ihn belasten, hängt nicht nur davon ab, ob sie auch ein Arbeitseinkommen verdienen, sondern auch von dem Umfang, mit dem der Staat den Lebensstandard auch der arbeitenden Migranten mitfinanziert. Ob er das tut, ist am Ende natürlich eine empirische Frage. Die Antwort auf diese Frage hängt ganz maßgeblich davon ab, ob die EU-Binnenmigranten in der Lage sind, ein durchschnittliches, überdurchschnittliches oder unterdurchschnittliches Einkommen zu erwirtschaften, denn sie wandern ja in ein Gemeinwesen ein, das Ressourcen (…) von oben nach unten umverteilt. Und je nachdem, wie viel sie nach ihrer Einwanderung verdienen, profitieren sie mehr oder weniger von der Umverteilungspolitik dieses Gemeinwesens.
In einer ersten Annäherung kann man davon ausgehen, dass alle Staatsbürger die Leistungen des Staates in etwa gleichem Umfang in Anspruch nehmen. Von dem Umstand, dass Geringqualifizierte mehr Sozialleistungen erhalten als andere, schon weil sie wesentlich häufiger arbeitslos sind, sei also zunächst einmal abgesehen. Dafür gehen sie nicht so häufig in die Oper oder nutzen auch andere kulturelle Einrichtungen wenig, die eher von Mittel- bis Besserverdienenden genutzt werden und die ja ebenfalls staatliche Mittel erhalten. Alle aber fahren sie über öffentliche Straßen, benutzen subventionierte öffentliche Verkehrssysteme, lassen sich von Polizei und Justiz schützen, schicken ihre Kinder zur Schule und nehmen die Leistungen der öffentlichen Verwaltungen und des Rechtssystems in Anspruch. (…)
Wer überdurchschnittlich verdient, zahlt überdurchschnittlich viele Steuern für die erhaltenen Leistungen, und wer unterdurchschnittlich verdient, zahlt unterdurchschnittlich viele Steuern. Nur der Durchschnittsverdiener zahlt in etwa so viel, wie die staatlichen Leistungen kosten, die er nutzt. Nach den einschlägigen OECD-Statistiken sind die nach Deutschland migrierenden Menschen im internationalen Vergleich im Durchschnitt extrem gering qualifiziert. Und wie das Statistische Bundesamt berichtet, kommen die Immigranten im Schnitt noch nicht einmal in der zweiten Generation in die Nähe des Durchschnittseinkommens der hier insgesamt arbeitenden Menschen. Sie erhalten also zu ihrem Lohn noch ein Umverteilungsgeschenk des Staates hinzu, quasi eine Immigrationsprämie. Wenn die Immigration nur durch Lohndifferenzen gesteuert wäre, wäre sie effizient. Das lässt sich so begründen: Aufgrund der Grenzproduktivitätsentlohnung ist der Lohnzuwachs, in dessen Genuss der Migrant kommt, dem Zuwachs des gemeinsamen Sozialprodukts der beteiligten Länder gleich. Da ein Migrant nur kommt, wenn dieser Lohnzuwachs seine subjektiven und objektiven Migrationskosten übersteigt, und nur kommen sollte, wenn der Zuwachs des gemeinsamen Sozialprodukts diese Kosten übersteigt, ist die freie Migrationsentscheidung auch volkswirtschaftlich effizient.
Die Immigration wird aber nicht nur durch Lohndifferenzen gesteuert, sondern auch durch die „Immigrationsprämie“ des Sozialstaates. Diese Prämie bedeutet, dass mehr Menschen kommen, als volkswirtschaftlich gesehen sinnvoll ist, nämlich so viele, dass der Lohnzuwachs, und damit der Zuwachs des Sozialprodukts, den die letzten Migranten erzeugen, kleiner ist als die Migrationskosten, eben weil Migranten ja auch noch diese Prämie berücksichtigen, wenn sie sich entscheiden, ihre Heimat zu verlassen. Die Sozialmigration, die viele deutsche und EU-Politiker lange nicht als Problem erkennen wollten, hat inzwischen zur Brexit-Entscheidung der Briten geführt, also zum Wunsch, aus der EU auszutreten. Zumindest hat sie wesentlich zu dieser Entscheidung beigetragen. Bei den Exit Polls, also den Meinungsumfragen direkt nach dem Verlassen der Wahlkabinen am 23. Juni 2016, als die Briten für den Austritt stimmten, zeigte sich, dass die Migration unter den Austrittswilligen etwa fünfmal so häufig wie andere zur Auswahl angebotene Erklärungen genannt wurde. Nur der Wunsch nach Unabhängigkeit an sich rangierte verständlicherweise noch höher. Und bei näherer Betrachtung war das auch nicht verwunderlich. Die Briten hatten nämlich schon in den 1950er- und 1960er-Jahren sehr viel Immigration erlebt, als im Zuge der Auflösung des Britischen Empire die Bevölkerung der nun nach und nach unabhängig werdenden Commonwealth-Länder auch das Recht erhielten, ihren Wohnsitz in Großbritannien zu wählen. Die Immigranten dieser Einwanderungswelle sind zwar inzwischen naturalisiert und in der Statistik nicht mehr sichtbar. Von vielen Briten werden sie aber trotzdem als ein Problem angesehen, weil viele von ihnen quasi in Ghettos leben, den Sozialstaat überdurchschnittlich belasten und auch sonst für einige gesellschaftliche Spannungen sorgen.
So erhitzten etwa die Ereignisse in Rotherham, einer kleinen Stadt im früheren industriellen Zentrum Großbritanniens, die Gemüter. In Rotherham, wo die Bevölkerung mit weißer Hautfarbe inzwischen die Minderheit darstellt und 38 Prozent der Einwohner pakistanische Wurzeln hat, was sich selbst unter den Behördenmitarbeitern niederschlägt, war es jahrelang zu einem organisierten sexuellen Missbrauch von Mädchen gekommen, der von den Behörden verschleiert wurde, dann aber durch die Zeitung The Times aufgedeckt wurde. Ein daraufhin erstellter offizieller Untersuchungsbericht kam zu dem Schluss, dass zwischen 1997 und 2013 mindestens 1.400 Mädchen von pakistanischen Banden entführt, vergewaltigt oder zur Prostitution gezwungen worden waren. Der Vorgang führte zu Parlamentsdebatten und erregte die britische Öffentlichkeit. Da die Unabhängigkeitspartei UKIP ihn hochspielte, kann man davon ausgehen, dass auch er für die Wahlentscheidung der Briten eine Rolle gespielt hat. Bei der Wahlentscheidung war es aber vor allem die noch sehr frische massive Immigration aus Polen und anderen osteuropäischen EU-Ländern, die die Briten besonders erregte.
Aufgrund des EU-Rechts auf Freizügigkeit war diese Immigration grundsätzlich in alle EU-Ländern erlaubt. Das Problem für die Briten war jedoch, dass andere Länder, zu denen auch Deutschland gehörte, von einer Übergangsregel Gebrauch gemacht hatten, nach der der Startpunkt der Grenzöffnung für Arbeitskräfte noch ein paar Jahre hinausgeschoben werden konnte. Das Resultat war, dass nun sehr viele Osteuropäer nach Großbritannien drängten, mehr als die dortige Bevölkerung zu tolerieren bereit war. Die starke Migration aus Drittländern in die EU, die die Bundeskanzlerin im Herbst 2015 zum Entsetzen vieler Briten zuließ und die – für jedermann in machtvollen medialen Bildern sichtbar – dann auch noch dazu führte, dass sich am Eingang des Kanaltunnels bei Calais Lager von Migranten bildeten, die nach Großbritannien weiterreisen wollten, brachte das Fass in der öffentlichen Wahrnehmung zum Überlaufen und initiierte letztendlich den Brexit.
Die Dominanz des Migrationsthemas schlug sich auch in den Verhandlungen nieder, die der damalige britische Premierminister David Cameron mit der EU im Vorfeld der Brexit-Abstimmung führte. Seine Hauptforderung war, die Zeitspanne bis zur Inklusion der EU-Migranten in das britische Sozialsystem zu verlängern. Man ließ Cameron aber abblitzen und bot ihm nur eine zeitlich begrenzte Übergangsregelung, die aber bald wieder verschwinden sollte. So trat Cameron letztlich mit fast leeren Händen vor sein Volk, jedenfalls mit nichts, was die Briten hätte umstimmen können. Auf die schroffe Zurückweisung der britischen Wünsche durch die EU regierte das Volk schließlich mit dem Austrittswunsch.
Besonders für Deutschland ist dieser Austritt problematisch, weil Großbritannien Deutschlands drittgrößten Exportmarkt darstellt und sein wichtigster Verbündeter bei der Durchsetzung einer weltweiten Freihandelspolitik war, ohne die unser Land die Stärke seiner Industrien nicht hätte ausspielen können. Ohne die Briten dürfte sich die Gefahr verstärken, dass sich die EU in eine Handelsfestung verwandeln wird mit dem Ziel, nicht mehr wettbewerbsfähige Industrien in Frankreich und vor allem Südeuropa zu schützen. Der größte Leidtragende einer solchen Entwicklung wäre Deutschland. (…)
Leicht gekürzter Auszug aus: Hans-Werner Sinn, Auf der Suche nach der Wahrheit. Autobiografie. Herder, 2018.
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