WirtschaftsWoche, 13.05.2016, S. 40
Wer den Freihandel blockiert, kämpft in Wahrheit gegen eine Steigerung des eigenen Lebensstandards. Denn dem Verbraucher werden hochwertige Importgüter vorenthalten.
Seitdem Greenpeace Verhandlungsdokumente zum geplanten Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA ins Netz gestellt hat, kochen die Emotionen mal wieder hoch. Dabei geht weitgehend unter, dass der zentrale Streitpunkt weniger beim Verbraucherschutz oder den Schiedsgerichten liegt, also jenen Themen, die in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund stehen - sondern bei deutschen Autos und Agrarprodukten aus Amerika und Frankreich. Während die USA erklären, dass sie eine Erleichterung von Autoimporten nur im Austausch gegen Freihandel im Agrarsektor hinnehmen, gibt der französische Ministerpräsident Hollande öffentlich zu Protokoll, Frankreich werde seine Landwirtschaft nicht dem Freihandel opfern.
Das erinnert an die Ursprünge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Schon damals hatte Frankreich darauf bestanden, dass im Ausgleich für seine Bereitschaft, die billigen deutschen Industriewaren zu kaufen, eine Agrarmarktordnung mit staatlich administrierten Preisen zur Sicherung der Einkommen seiner Bauern eingeführt wurde. Diese Agrarordnung hat trotz gewisser Liberalisierungen zu einem immer noch hohen Niveau der Agrarpreise in Europa geführt.
Das Thema ist ernst, so ernst, dass TTIP daran möglicherweise scheitern wird. Für die Amerikaner liegt der Wert des Handelsabkommens in der Möglichkeit, ihrer Landwirtschaft den europäischen Markt zu erschließen. Für Frankreich ist genau das die Gefahr. Die Amerikaner setzen nun die Abschottung des Automarkts als Drohmittel ein, um damit Deutschland gegen Frankreich in Stellung zu bringen. Der Effekt: Nur ein Dreiecksgeschäft, bei dem Deutschland Frankreich für das Recht bezahlt, seine Autos nach Amerika liefern zu dürfen, wird in der Lage sein, die Blockade zu überwinden.
Noch weiß niemand, was Deutschland Frankreich zahlen wird. Doch wenn man bedenkt, dass Frankreich eine europäische Wirtschaftsregierung mit einem gemeinsamen Budget fordert, das sich über Euro-Bonds finanzieren soll, ahnt man, wohin die Reise geht. Auch die französische Forderung nach einer gemeinsamen Einlagenversicherung für Banken kommt in Erinnerung.
Der sich anbahnende Kuhhandel ist aus politischer Sicht verständlich. Aus ökonomischer Sicht hingegen grenzt er an ein absurdes Theater. Jede Seite kämpft nämlich um das Recht, den Verbrauchern des eigenen Landes die Steigerung des Lebensstandards untersagen zu dürfen, die mit dem Erwerb attraktiver Importwaren einherginge. Die Amerikaner wollen die eigenen Leute daran hindern, hochwertige deutsche Autos zu kaufen. Die Franzosen wollen ihre Verbraucher hindern, billige amerikanische Nahrungsmittel zu kaufen, und die Deutschen sollen nun auch noch dafür zahlen, dass beide einlenken.
Abkehr von Ricardo
Dieses Verhalten der Staaten widerspricht eklatant der ökonomischen Lehre von den komparativen Handelsvorteilen, wie sie von David Ricardo vor mehr als 200 Jahren entwickelt wurde und seitdem zum festen Lehrstoff der Ökonomie geworden ist. Nach dieser Theorie resultiert aus der Spezialisierung der Länder auf das, was sie besonders gut können, der Handelsgewinn. Die Einwohner eines jeden Landes haben bei jeder Produktkategorie die Wahl, heimische Produkte zu kaufen oder Importgüter zu erwerben, wenn sie diese als preiswerter empfinden. Wenn sie von dieser Wahlmöglichkeit Gebrauch machen, stellen sie sich in allen Ländern besser, als wenn es keinen Freihandel gäbe.
Eigentlich müsste man deshalb erwarten, dass alle Staaten aus freien Stücken ihre Grenzen für Importwaren öffnen und dass es keiner Abkommen zur Handelserleichterung bedarf. Dass es in der Praxis anders läuft, ist eine Paradoxie, die beweist, wie wenig Wirtschaftspolitik mit Nutzenmaximierung für die Bevölkerung zu tun hat. Die Paradoxie wird, wie Hannelore Weck-Hannemann von der Universität Innsbruck schon vor vielen Jahren gezeigt hat, auch dadurch erklärt, dass sich Regierungen dem Druck heimischer Produzenten beugen. Die Produzenten sind in der Regel besser organisiert als die Verbraucher, weil bei ihnen der Streitwert pro Kopf größer ist; dies begünstigt die Gründung schlagkräftiger Lobbygruppen.
Dass es Verbraucherverbände gibt, die in das gleiche Horn wie die Produzentenlobby blasen, weil sie von interessierten Produzenten mitfinanziert werden, steht dieser Interpretation nicht entgegen.
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