Wirtschaftswoche, 21. Juli 2017, S. 77
Seit einigen Jahren haben sich in Deutschland Berufsgewerkschaften entwickelt, deren aggressive Streiks gerade im Verkehrswesen zu erheblichen Blockaden geführt haben. Es handelt sich dabei vor allem um die Gewerkschaften der Lokführer, Flugbegleiter, Fluglotsen, des Bodenpersonals der Flughäfen und der Piloten inklusive der Flugzeugingenieure. Blockaden dieser Gewerkschaften haben riesige wirtschaftliche Schäden bei betroffenen Unternehmen, aber auch bei deren Kunden und Geschäftspartnern verursacht.
Der Deutsche Bundestag hat dieser Blockademacht im Jahr 2015 mit dem Tarifeinheitsgesetz einen Riegel vorgeschoben. Er stattete jeweils die mitgliederstärkste Gewerkschaft mit dem alleinigen Recht aus, einen gültigen Tarifvertrag für die gesamte Belegschaft zu verhandeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz nun im Wesentlichen als verfassungskonform bezeichnet. Das von Arbeitsministerin Andrea Nahles erarbeitete Regelwerk muss zwar an einigen Stellen nachgebessert werden. Es bleibt aber mit der Maßgabe gültig, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Minderheitsgewerkschaft "angemessen berücksichtigen" muss - was immer das heißen mag.
Mit dieser für die Volkswirtschaft wichtigen Entscheidung ist das Verfassungsgericht seiner tragenden Rolle für die Entwicklung des Gemeinwesens einmal mehr gerecht geworden. Denn ohne dieses Urteil hätten Deutschland englische Verhältnisse gedroht, wie sie in der Nachkriegszeit zum Absturz Großbritanniens führten und erst durch die Reformen Margret Thatchers überwunden wurden. In Großbritannien gab es damals sehr viele Berufsgewerkschaften, die stets nur kleine Teile der Belegschaften verkörperten und mit ihrer gleichwohl bestehenden Blockademacht das Land in einer nicht enden wollenden Kette von Dauerstreiks lahmlegten.
Selbst wenn man die Kosten der Blockaden vernachlässigt, sind Berufsgewerkschaften extrem schädlich für eine Volkswirtschaft, mehr noch: Sie sind so schädlich, dass man sie eigentlich im Grundgesetz verbieten müsste.
Eine Monopolgewerkschaft ist ökonomisch gesehen ein Kartell von Arbeitnehmern. Dieses Kartell holt eine höhere (um den Freizeitverlust der Arbeitnehmer bereinigte) Lohnsumme für die Belegschaft heraus, als es die Arbeitnehmer unter Konkurrenzbedingungen selbst vermocht hätten. Gibt es in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften, die für alternative und komplementär benötigte Berufsgruppen stehen, kommen bei Lohnverhandlungen zwar durchschnittlich noch höhere Löhne pro Arbeitnehmer heraus. Doch schaden sich die Arbeitnehmer damit gegenseitig, weil Arbeitsplätze infolge der steigenden Arbeitskosten verschwinden. Die Produkte des Unternehmens werden dann so teuer, dass am Ende eine kleinere Lohnsumme für alle Arbeitnehmer zustande kommt, als eine Monopolgewerkschaft im wohlverstandenen Eigeninteresse der Belegschaft durchsetzen würde.
Während die Konkurrenz von einzelnen Arbeitnehmern innerhalb einer Berufsgruppe die Löhne pro Kopf senkt, führt die Konkurrenz komplementärer Berufsgewerkschaften zu höheren Löhnen pro Kopf - aber eben zu einer kleineren Lohnsumme. Die Konkurrenz der Berufsgewerkschaften schädigt also nicht nur die Unternehmen und ihre Kunden, sondern auch die Belegschaft in ihrer Gesamtheit. Deshalb ist eine solche Konkurrenz vollkommen sinnlos.
Das Urteil des Verfassungsgerichts bezieht freilich nicht unmittelbar gegen die Berufsgewerkschaften Stellung, sondern bekräftigt sogar deren Existenzrecht. Gleichwohl impliziert die Mehrheitsregel, dass Berufsgewerkschaften nun im Normalfall keine Blockademacht mehr haben. Sie werden sich vielleicht auflösen oder als bloße Interessenvertretungen erhalten bleiben, die zwar noch Lohnempfehlungen abgeben, doch keine echte Gewerkschaftsmacht mehr ausüben können.
Was bedeutet das nun für die Lohnpolitik? Sofern die Berufsgewerkschaften besser bezahlte Mitarbeiter vertreten, werden deren Tarifentgelte gegenüber anderen Mitarbeitern trendmäßig nachgeben. Die Lohnstruktur der Betriebe flacht sich dadurch ab. Man muss aber nicht befürchten, dass nun alles in einem Einheitsbrei versinkt - die Tariflöhne definieren ja ohnehin immer nur Lohnuntergrenzen. In den Sphären der betrieblichen Hierarchie können Arbeitnehmer auf individueller Ebene nach wie vor ihre Gehälter frei verhandeln. Ja, es ist sogar vorstellbar, dass Berufsgewerkschaften nun kollektive Lohnleitlinien vereinbaren, die von den Unternehmen freiwillig eingehalten werden. Nur handelt es sich dabei nicht länger um überzogene Löhne, die sich allein durch gewerkschaftliche Blockademacht erzwingen lassen.
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