Die Zeit, 14.04.2016, S. 28
Im Jahr 1989 hätte man für Tokio ganz Kanada kaufen können. So weit hatte der Immobilienboom Japan aufgeblasen. Japanische Aktien erzielten zugleich Rekordkurse. Alles war irreal, eine bloße Spekulationsblase, die entstanden war, weil die japanische Notenbank durch drastische Zinssenkungen der Yen-Aufwertung entgegenwirken wollte, die selbst wiederum durch die amerikanische Steuer- und Geldpolitik verursacht worden war.
Als die japanische Blase 1990 platzte, fielen die Aktienkurse innerhalb von zwei Jahren um die Hälfte, und die trägeren Immobilienpreise sind bis heute um gut 60 Prozent gefallen. Bei den Finanzinstituten und Privatanlegern löste der Verfall große Nöte aus, denn während die Schulden blieben, wurde das Eigenkapital durch den Preisverfall bei den Vermögenswerten aufgefressen. Viele Firmen gingen in Konkurs.
Die Banken verschleppten ihre Pleite, indem sie vermieden, die neuen Marktwerte ihrer Vermögensobjekte in der Bilanz zu verbuchen. Dadurch häuften sie stille Verluste an. Die konnten aber selbst die cleversten Buchhalter nicht beliebig lange vor sich herschieben. Das Jahr 1997 war das Jahr der Wahrheit für die japanischen Banken, denn die Finanzindustrie wurde weitgehend liberalisiert. Etwa 40 Prozent von ihnen kamen damals in Schwierigkeiten und wurden von anderen übernommen, verstaatlicht oder abgewickelt.
Die Wirtschaftspolitik reagierte auf die Krise, indem sie sich des Medikamentenkastens der keynesianischen und monetären Makrotheorie bediente. Der Staat verschuldete sich im großen Stil und betrieb ein Deficit Spending, um die Nachfrage nach Gütern und Leistungen des privaten Sektors zu erhöhen. Die Notenbank senkte die Zinsen immer weiter und überschwemmte das Land mit Geld.
Nur: Geholfen hat alles nichts. Japan wuchs seit 1990 im Schnitt nur noch um 0,9 Prozent pro Jahr und war damit langsamer unterwegs als jedes andere entwickelte Land außer Italien, jedenfalls wenn man die Gruppe der OECD-Länder betrachtet.
Als sich die Medikamente als wirkungslos erwiesen, reagierten die Japaner immer wieder von Neuem mit der Erhöhung der Dosis. Die Vertreter der keynesianischen Makroökonomie argumentierten nämlich, dass die Politik viel zu zaghaft sei und es nicht gewagt habe, in die Vollen zu gehen.
Seit 20 Jahren liegt der Zinssatz in Japan nahe null Prozent
Doch eine noch expansivere Politik, als sie in Japan realisiert wurde, ist schlechterdings nicht möglich. Die Staatsschuldenquote, die 1990 noch bei 67 Prozent gelegen hatte, beträgt mittlerweile 246 Prozent. Und der Diskontsatz, zu dem die japanische Notenbank ihr Geld verleiht, liegt seit dem Herbst 1995, also nun schon seit mehr als 20 Jahren, praktisch bei null. Im Februar dieses Jahres drückte die japanische Zentralbank ihn sogar auf den Wert von minus 0,1 Prozent.
Der letzte verzweifelte Versuch, dem Problem mit einer Erhöhung der Dosierung der Medikamente beizukommen, bestand im sogenannten Abenomics-Programm, das im Jahr 2013 begann und nach dem derzeitigen Premierminister Shinzo Abe so benannt wurde. Im Wesentlichen ging es um neue, riesige Schuldenprogramme und den Erwerb der Staatspapiere durch die Zentralbank, wie es der amerikanische Ökonom Paul Krugman der japanischen Regierung empfohlen hatte. Anfänglich schien das Programm zu wirken und ein bisschen Wachstum zu erzeugen. Doch verpufften auch diese Wirkungen sehr schnell. Nur drei Jahre nach dem Beginn der neuen Politik geht es der japanischen Wirtschaft so schlecht wie zuvor.
Das ist das grundsätzliche Problem der makroökonomischen Politik, sei sie nun fiskalischer oder geldpolitischer Natur: Stets greifen die Maßnahmen nur kurzfristig. Das liegt zum einen daran, dass eine Staatsverschuldung zwar staatliche Nachfrage nach Gütern und Leistungen von der Zukunft auf die Gegenwart zieht, sie aber in der Summe der Jahre nicht vergrößern kann. Jede Schuld muss ja bedient oder getilgt werden, was der Wirtschaft künftig so viel Stimulierung entzieht, wie sie heute hinzubekommt. Man kann schon wegen dieses trivialen Effektes keine dauerhafte Konjunkturbelebung erzeugen. Und wenn die Bürger dies durchschauen und misstrauisch werden, dann kommt es nicht einmal kurzfristig zu solch einer Belebung.
Zum anderen wirkt auch die Geldpolitik nur kurzfristig, weil ihre Erfolge großenteils über eine Währungsabwertung zustande kommen. Ein Teil des vielen neuen Geldes, das die Notenbank in die Wirtschaft pumpt, drängt ins Ausland und führt zu einer zusätzlichen Nachfrage nach Devisen, die fremde Währungen aufwertet und die eigene Währung damit abwertet. Das ist expansiv, weil die Konsumenten statt der teurer werdenden Importware eher heimische Produkte kaufen und weil die Exporte, die ja fürs Ausland billiger werden, anziehen. Doch schauen die Notenbanken der anderen Länder dem in der Regel nicht tatenlos zu. Treten sie mit eigenen Zinssenkungen in einen Abwertungswettlauf ein, kann der Effekt in sein Gegenteil umschlagen.
Sicher, man kann insofern zusätzlich auf stimulierende Effekte hoffen, als die niedrigen Zinsen die Finanzierung von Investitionen erleichtern. Die Nachfrage nach Investitionsgütern ist ein wichtiges Element der Binnennachfrage eines jeden Landes, weil viele Firmen nicht an Endkunden, sondern an andere Firmen verkaufen. Aber dem stehen regelmäßig negative Effekte bei den Verbrauchern entgegen. Gerade in Japan, wo die Altersversorgung vor allem auf der Kapitaldeckung basiert, bedeutet eine Zinssenkung, dass die Verbraucher umso mehr sparen, um den für das Alter geplanten Lebensstandard dennoch zu erreichen. Und wenn die Verbraucher nicht kaufen wollen, lohnt es sich trotz der niedrigen Zinsen für die Firmen nicht, zu investieren.
Warum verfallen Regierungen in der ganzen Welt dennoch dieser Politik? Das liegt vor allem in der Kurzfristigkeit ihres Denkens begründet. Es gilt, die nächste Wahl zu gewinnen, und dafür sind die keynesianischen und monetaristischen Aufputschmittel nützlich. Auch Abenomics war im Grunde nichts anderes, als mehr von dem Aufputschmittel zu geben, das man der japanischen Wirtschaft schon seit mehr als zwei Jahrzehnten verabreicht hatte. Die Politik Abes half temporär gegen die Kopfschmerzen, erzeugte anschließend aber einen noch größeren Kater.
Ein wesentlicher Grund für die lockere Geldpolitik liegt im Übrigen nicht im Versuch, die Wirtschaft zu beleben, sondern darin, den Verfall der Immobilienpreise und der Preise anderer Vermögensobjekte wie langfristiger Staatspapiere oder Aktien zu stoppen. Es geht darum, die Entwertung des Kapitals der Vermögensbesitzer und den Zusammenbruch von Banken und Unternehmen zu verhindern. Etwas sarkastischer kann man auch sagen, dass Niedrigzinspolitik immer auch Konkurse verschleppen soll, um den politisch einflussreichen Besitzern von Aktien, Immobilien und langfristigen festverzinslichen Wertpapieren dabei zu helfen, den Folgen ihrer Fehlinvestitionen zu entgehen.
Aber dieses Bestreben führt nicht nur dazu, dass Risiken von den Anlegern auf die Steuerzahler übertragen werden, die auf dem Wege über die Zentralbank in immer größerem Umfang zu Eigentümern der Wertpapiere werden.
Sie sind auch insofern schädlich für die Wirtschaft, als die kreative Zerstörung überkommener Unternehmensstrukturen, deren segensreiche Wirkungen schon Joseph Schumpeter und Karl Marx beschrieben hatten, verzögert wird. Durch die staatlichen Nachfragespritzen werden ineffiziente Alt-Unternehmen aufrechterhalten, die eigentlich durch neue, dynamische Unternehmen hätten ersetzt werden müssen. Banken und Finanzinstitute, die bei einer korrekten Bewertung hätten in Konkurs gehen müssen, werden durchgeschleppt - und mit ihnen die Unternehmen, denen sie Kredite gewähren. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Japan nun schon ein Vierteljahrhundert herumlaboriert, ohne vom Fleck zu kommen.
Hier zeigen sich die Parallelen zum Euro-Raum, denn nicht nur Italien, sondern ganz Südeuropa verharrt heute in einem Zustand fehlender Wettbewerbsfähigkeit, der deshalb nicht aufgebrochen wird, weil immer wieder neues Geld zur Verfügung gestellt wird, mit dem sich die überkommenen Strukturen erhalten lassen. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit hat historische Gründe. Sie wird aber großenteils auch durch den Euro selbst erklärt.
Nachdem der Euro den Investoren der Welt Sicherheit bei einem Engagement in Südeuropa vorgegaukelt und sie veranlasst hatte, sich mit wesentlich kleineren Zinsen zufriedenzugeben als zuvor, kam es in Südeuropa in den Jahren nach dem Gipfel von Madrid (1995), auf dem der zeitliche Ablauf bis zur Euro-Einführung endgültig beschlossen wurde, zu einem gewaltigen inflationären Kreditboom. Da im Staatssektor - und auch beim Bau - kreditfinanzierte Lohnsteigerungen realisiert wurden, die sich nicht mehr am Produktivitätszuwachs orientierten, wurden die Länder zu teuer und verloren ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Das wurde ein Problem, als der Kreditfluss aus dem Ausland mit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 jäh versiegte. Daraufhin druckten die lokalen Notenbanken für ihre Volkswirtschaften das Geld, das die ausländischen Kreditgeber dorthin nicht mehr verleihen wollten, was durch die sogenannten Target-Salden gemessen wird. Im zweiten Schritt schuf die Politik riesige fiskalische Rettungsschirme, um die Überlastung der lokalen Druckerpressen zu vermeiden. Das alles half, den Crash zu vermeiden, doch hieß es auch, dass die kreditfinanzierten Lohnerhöhungen und ihre Folgen für die Preise nicht (Italien und Portugal) oder nur in sehr unzureichendem Maße (Griechenland, Spanien) korrigiert wurden.
Genau da liegt das anhaltende Problem heute. Die Länder Südeuropas müssten gegenüber ihren Wettbewerbern im Euro-Raum vermutlich um weitere 15 bis 30 Prozent billiger werden, um wieder konkurrenzfähig zu werden. Doch im Euro setzt das eine lange Phase der Austeritätspolitik voraus, in der diese Länder über eine Wirtschaftsflaute dazu gebracht werden, ihre Preise in Relation zu den anderen Ländern zu senken. So ähnlich geschah es zwar in Deutschland nach dem Euro-Beitritt. Dafür fehlt es der Politik in diesen Ländern aber heute an Kraft und Toleranz. Immer wieder erliegt sie der Versuchung, dem Wahlvolk kurzfristig durch neue Schulden Linderung zu verschaffen, aber genau dadurch wird die dringend nötige Korrektur der relativen Preise verhindert.
Es ist verständlich, dass die EZB unter diesen Umständen lieber den Weg gehen will, die Euro-Zone insgesamt zu inflationieren. Dann werden Italien & Co. von ganz allein wieder wettbewerbsfähig, vorausgesetzt sie verzichten auf neue Schulden, damit ihre Löhne und Preise konstant bleiben können. Nur müssen die Preise in Deutschland dann umso schneller steigen.
Das ist indes leichter gesagt als getan, denn ein so stabilitätsorientiertes großes Land wie Deutschland lässt sich nicht leicht inflationieren. Es ist behäbig wie ein schwerer Tanker. Die deutschen Güterpreise steigen nur wenig, sodass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Südländer kaum verbessert. Inflation gibt es dagegen bei den deutschen Immobilienpreisen. Seit 2010 sind sie in den Städten schon um ein Drittel gestiegen und in den Großstädten schon um die Hälfte.
Der Immobilienboom belebt die Binnenwirtschaft und hilft, die Flüchtlinge zu integrieren, indem viele einfache Stellen im Bau und im Handwerk entstehen. Indes droht dieser Boom nun wegen der Null- und Negativzinspolitik der EZB zu einer Blase zu werden, und das ist gefährlich, weil die meisten Blasen irgendwann platzen. Noch ist es nicht so weit. Bis Blasen platzen, können eineinhalb Jahrzehnte vergehen, und Deutschland hat erst die ersten fünf Jahre hinter sich. Doch wenn sie platzen, ist das Chaos groß. Dann würde Deutschland in einen Zustand geraten, in dem sich Südeuropa heute befindet. Massenarbeitslosigkeit, Bankensterben, neue Verschuldungsexzesse und vor allem mehr politische Radikalität und Destabilisierung des Systems könnten die Folgen sein.
Deswegen ist es an der Zeit, der EZB engere rechtliche Schranken zu setzen oder sie zumindest in die bestehenden Schranken zu verweisen und die Südländer zu drängen, mehr eigene Anstrengungen zur Überwindung ihrer Wettbewerbskrise zu ergreifen. Doch wie und ob dies überhaupt im Euro geschehen kann, ist ein anderes und ein offenes Thema.