Die Zeit, 15.02.2016, S. 29.
Nein, sie ist 1970 nicht mit nach Warschau gefahren. Sie wusste zwar, dass der deutschpolnische Vertrag, mit dem Deutschland die Oder-Neiße-Linie faktisch als Westgrenze Polens akzeptierte, notwendig war, um die Entspannung einzuleiten. Doch konnte sie, die aus Ostpreußen kam, die Vorstellung nicht ertragen, auf den Vertrag auch noch mit einem Glas Sekt anstoßen zu müssen. Einen Tag vor der Abreise sagte sie ihre Teilnahme an der Reise nach Warschau ab, zu der sie Willy Brandt eingeladen hatte. Der Bundeskanzler nahm ihr die kurzfristige Absage nicht übel. »Was das Heulen angeht. Mich überkam es an meinem Schreibtisch, als ich die Texte für Warschau zurechtmachte«, schrieb er ihr, der Gräfin aus Ostpreußen, die eine so andere Lebensgeschichte gehabt hatte als er selbst.
Marion Gräfin Dönhoff hatte Brandts Ostpolitik von Anfang an mit Nachdruck unterstützt, weil sie keine Alternative dazu sah und die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas wollte. Wie kein anderer Journalist hat sie durch ihre vielfältigen Artikel nach dem Amtsantritt Willy Brandts Schützenhilfe für seine Politik gegeben. Sie hat den Verzicht auf ihre Heimat akzeptiert, weil sie einsah, dass sie ohnehin verloren war. Dönhoff war zwischen 1968 und 1972 Chefredakteurin der ZEIT, ab 1973 gehörte sie neben Helmut Schmidt zum Kreis der Herausgeber. Sie hat als Journalistin das Denken einer ganzen Generation geprägt.
Ich war zu der Zeit von Willy Brandts Ostpolitik noch Student der Volkswirtschaftslehre. Gräfin Dönhoff zog mich nicht nur deshalb in ihren Bann, weil auch sie Volkswirtin war, sondern vor allem, weil sie kenntnisreich und packend schrieb und mit ihren Schriften einem neuen Zeitgeist Gestalt gab, der uns damals beseelte. Ihre eigene Herkunft gab ihren Worten die Glaubwürdigkeit, die mir damals bei vielen Zeitgenossen zu fehlen schien.
Was Gräfin Dönhoff verloren hatte, konnte ich auf einer Reise durch Ostpreußen erahnen. Dieses grandiose Land mit seinen prächtigen Städten, Gutshöfen und Kirchen, von dem sie in einem langen, mehrtägigen Ausritt Abschied genommen hatte, ist ein erloschener, aber zentraler Teil der deutschen Kulturgeschichte. Man stelle sich auf den hohen Turm der Frauenburg und schaue auf dieses Land. Die Wälder, die Wiesen, die Gehöfte und das Meer als liebliche Umrahmung dieses großartigen und gewaltigen Kunstwerks der Backsteingotik. Es ist atemberaubend.
Auf der Frauenburg war Nikolaus Kopernikus in seinen späten Jahren Domherr. Dass die Universität von Thorn, wo Kopernikus als Kind deutscher Eltern und Neffe des Bischofs aufgewachsen war, Gräfin Dönhoff später die Ehrendoktorwürde verlieh, beweist, für wie integer man sie hielt. Ja, das war sie. Glaubhaft und authentisch thronte sie in Hamburg über der deutschen Journalistenzunft.
Ich war kürzlich wieder in Warschau. Bevor ich das neue und höchst beeindruckende Ghetto-Museum besuchte, kam ich am Mahnmal für Willy Brandt vorbei. Es zeigt seinen Kniefall vor dem dortigen Mahnmal für die Opfer des Aufstandes. Die jiddische Kultur, die in Polen ihr Zentrum hatte, wurde von Deutschland ausgelöscht. Man kann die Dinge nicht aufrechnen, doch dass sie zusammenhängen, lässt sich nicht bestreiten. Die Ostpolitik Brandts war eine geschichtliche Notwendigkeit.
Und sie war erfolgreicher, als man es damals ahnen konnte. Der Wandel durch Annäherung, den Egon Bahr beschworen hatte, führte zu einem regen Reiseverkehr und einem Informationsaustausch über das Fernsehen, der die Erosion der DDR beschleunigte. In Polen ermöglichte der 1979 heimkehrende Papst das Erstarken von Solidarność. Es dauerte nach dem Beginn der Ostpolitik nur zwanzig Jahre, bis die Sowjetunion zerfiel, bis Deutschland vereint wurde und bis es bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nun auch unter einem christdemokratischen Kanzler den endgültigen Verzicht auf die Ostgebiete erklären musste.
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