Zeit Online, 16.02.2016.
Die Marktwirtschaft erzeugt viel Ungleichheit, wohl wahr. Das ist der notwendige Preis ihrer Effizienz. Mit einer Umverteilung darf es der Staat nicht zu weit treiben.
Die Marktwirtschaft ist effizient, aber nicht gerecht. Jedenfalls ist sie effizient, wenn man Konkurrenz herstellt und die externen Effekte, die aus unvollkommenen Märkten resultieren, internalisiert – wie beispielsweise in der Umweltpolitik. Die Marktwirtschaft ist allerdings nicht gerecht, weil sie nicht nach Bedürfnissen, nicht einmal nach Anstrengung, sondern vor allem nach Knappheit entlohnt. Wer gut Fußball spielen oder gut managen kann, wird reich, obwohl er sich nicht mehr anstrengt als andere, ja vielleicht sogar das bequemere Leben hat.
Die Vermögensungleichheit zwischen den Menschen tendiert dazu, im Laufe der Zeit zuzunehmen, weil aus hohen Einkommen ein höherer Prozentsatz gespart werden kann und für große Vermögen bessere Anlageobjekte zur Verfügung stehen als für kleine. Insbesondere steht großem Vermögen die Anlage in realen Firmen zur Verfügung, die dann am besten funktionieren, wenn sie von einem Unternehmer gelenkt werden, der mit seinem eigenen Vermögen haftet.
Vermögen wird in großem Umfang über Erbschaften weitergegeben. Dadurch kann es akkumuliert und konzentriert werden. Durch die Erbschaft kann es je nach Familienverhältnissen aber auch wieder verteilt werden.
Vermögen ist zugleich Kapital, das Arbeitsplätze schafft. Durch die Akkumulation von Kapital, das in immer komplexere Maschinen investiert wird, steigen die Arbeitsproduktivität und der Lohn. Jedes Jahr orientieren sich die Lohnverhandlungen am Zuwachs der Arbeitsproduktivität, der größtenteils durch den vermehrten Kapitaleinsatz zustande kam.
Zu viel Umverteilung schadet
Der Staat kann die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen mildern, indem er den Reichen mehr Steuern abknöpft als den Armen, obwohl sie an der öffentlichen Infrastruktur in ähnlicher Weise partizipieren. Er kann den Armen außerdem durch Sozialleistungen helfen. Eine solche Umverteilung ist nicht nur gerecht, sondern auch effizient, weil sie einem Versicherungsschutz gleichkommt. Rationale Staatsbürger können für ihre Nachkommen, deren Fähigkeiten sie noch nicht kennen, den Sozialstaat aus ähnlichen Gründen wählen, wie sie auch private Versicherungsverträge freiwillig abschließen.
Man darf die Umverteilung durch den Staat aber nicht zu weit treiben, weil das die Leistungsanreize reduzieren kann. So erzeugen sozialstaatliche Lohnersatzeinkommen Mindestlohnansprüche, die die Zahl der rentablen Geschäftsmodelle und damit die Beschäftigungsmöglichkeiten reduzieren. Eine progressive Besteuerung der Einkommen ruft den Anreiz hervor, weniger zu arbeiten und weniger zu sparen, was den Zuwachs der Arbeitsproduktivität verringert. Eine hohe Erbschaftsteuer verleitet die Erblasser, ihr Vermögen selbst zu verbrauchen, es ins Ausland zu schaffen oder, was im Mittelstand sicherlich zu erwarten wäre, die jeweiligen Unternehmungen aufzugeben. Typischerweise setzen die Unternehmer ihre Lebenskraft ein und opfern ihre Freizeit, um ein Imperium aufzubauen und sich ein Denkmal zu setzen, nicht um einen hohen Konsumstandard zu realisieren. Eine übermäßige Besteuerung zerstört die Anreize und schadet damit den Arbeitnehmern.
In der Marktwirtschaft gibt es deshalb einen Zielkonflikt zwischen der Größe des Kuchens und der Gleichmäßigkeit seiner Verteilung. Wenn man es übertreibt und die private Vermögensbildung zu sehr diskriminiert, leidet das Wachstum. Möglicherweise leiden selbst diejenigen, denen man die eingenommenen Steuermittel zufließen lässt.
Frankreich, das mit einer Staatsquote von 58 Prozent massiv Einkommen und Lebensstandard umverteilt, funktioniert ökonomisch weniger gut als Deutschland, wo diese Quote nur 44 Prozent beträgt. Der durchschnittliche Lebensstandard ist dort geringer als in Deutschland, und sehr viele junge Menschen sind arbeitslos, obwohl insgesamt sehr viel mehr Menschen im Staatssektor beschäftigt sind als in Deutschland. Systeme mit einer Staatsquote von 100 Prozent, die in der Geschichte ausprobiert wurden, waren so extrem ineffizient, dass sie zusammenbrachen, weil ihnen die Leute wegliefen.
Die Marktwirtschaft erzeugt viel Ungleichheit, wohl wahr. Das ist der Preis ihrer überlegenen Effizienz. Aber so schlecht, wie manche Leute tun, ist sie im Hinblick auf die Verteilungsfrage nun auch wieder nicht. Immerhin hat sie es geschafft, im Zuge der Globalisierung die weltweite Ungleichheit deutlich zu verringern. Gewinnsuchende Unternehmer haben ihr Kapital gerade dort investiert, wo die Löhne am niedrigsten waren, und diese Löhne dann in gegenseitiger Konkurrenz hochtrieben. Die Unterschiede werden über lange Zeiträume gerechnet immer kleiner. Noch im Jahr 1981 betrug der Anteil der Menschen, deren Einkommen unter der Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag lag, bei 44 Prozent. Bis zum Jahr 2012 war dieser Anteil auf 13 Prozent gefallen. Insbesondere in den Schwellenländern, die am meisten vom freien Kapitalfluss profitiert haben, sank dieser Anteil rapide.
Warum die Agenda 2010 richtig war
Der gleiche Mechanismus sorgte aber leider dafür, dass die Löhne in den entwickelten Staaten unter Druck gerieten, denn wenn das Kapital in die Schwellenländer geht, kann es nicht zugleich zu Hause zur Verfügung stehen. Vor gut einem Jahrzehnt hat insbesondere Deutschland unter diesem Effekt gelitten. Die Löhne kamen wegen der fehlenden Investitionen unter Druck – Deutschland hatte damals die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller entwickelten Länder –, doch sorgte die Lohnstarrheit dafür, dass sich der Druck nicht in Lohnsenkungen, sondern in immer mehr Arbeitslosigkeit entlud. Die deutsche Arbeitslosenquote war damals höher als die italienische oder französische heute. Zugleich war Deutschland OECD-Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten.
In dieser Situation half die Agenda 2010 von Schröder. Indem sie die Langzeitarbeitslosen von der Arbeitslosenhilfe auf die Sozialhilfe herunterstufte und letztere um einen Lohnzuschuss ergänzte (womit das ALG II geschaffen wurde), fielen die Lohnansprüche, die implizit vom Sozialstaat aufgebaut wurden. Die niedrigsten Löhne fielen zurück und die gesamte Lohnskala spreizte sich nach unten hin aus; freilich nicht absolut, sondern nur gegen den immer noch wachsenden Trend der Löhne gerechnet. Dadurch wurden Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle gehoben, die es sonst nicht gegeben hätte. Man denke nur an die Leiharbeitsfirmen und die vielen Stellen im Gaststättengewerbe, die geschaffen wurden. Nach einer Reaktionszeit von sieben Jahren waren allein in Westdeutschland 1,2 Millionen Arbeitslose weniger zu verzeichnen, als es bei einer Fortsetzung des langfristigen Trends zu immer mehr Arbeitslosen zu erwarten gewesen wäre.
Die Ausspreizung der Bruttolöhne wird von vielen als Zeichen einer wachsenden Ungleichheit in Deutschland gesehen. Das stimmt aber nicht, denn die Nettoeinkommensverteilung, ist gemessen am Gini-Koeffizienten seit den Reformen Schröders nicht ungleicher geworden. Das liegt daran, dass nun viele Leute ein Arbeitseinkommen haben, die vorher keines hatten, und daran, dass der Lohnzuschuss, von manchen fälschlicherweise Aufstockung genannt, bei vielen Menschen ein Einkommen oberhalb des Lohnes erzeugt. Man muss in Deutschland nicht von seiner Hände Arbeit leben, wenn man nur wenig Arbeitslohn erhält.
Deutschland gehört, was das Ausmaß der staatlichen Umverteilung betrifft, zu den Ländern, die durch ihre staatlichen Umverteilungsmaßnahmen die stärksten Effekte auslösen. Das zeigt sich am internationalen Vergleich der Gini-Koeffizienten der Bruttoeinkommen und der Nettoeinkommen. Der Unterschied zwischen diesen Koeffizienten ist in nur wenigen Ländern größer als in Deutschland. So gesehen fällt es schwer, ein Defizit an umverteilenden Maßnahmen des Staates auszumachen.
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