Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck (Grüne), hat sich in der ersten Halbzeit der Legislaturperiode auffällig viel um den Klimaschutz gekümmert. Das Gebäudeenergie- oder Heizungsgesetz, das die Menschen hierzulande zum allmählichen Heizungstausch verpflichtet, bestimmte lange die Schlagzeilen. Auch das Energieeffizienzgesetz, nach dem Unternehmen den Energieverbrauch bis 2030 um über 25 Prozent reduzieren müssen, wurde zur Förderung des Klimaschutzes eingeführt.
Und trotzdem scheint das nicht genug zu sein: Deutschlands Ziel, die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um zwei Drittel gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken, wird mit aller Wahrscheinlichkeit verfehlt, was Habeck selbst bereits Anfang 2022 befürchtete. In diesem Jahr fallen nahezu alle Bemühungen Habecks zur Reduzierung der Emissionen der Rezession oder der Frustration der Wähler zum Opfer.
Ist die Milderung der strengen Klima- und Energievorschriften unvermeidbar? Die deutsche Klimaschutz-Elite, bestehend aus den führenden Experten im Bereich Klimaschutz und Energiepolitik, nimmt dieses Risiko zum Anlass, um noch mehr Druck auf den Wirtschaftsminister Habeck auszubauen, darunter über ausländische Medien. „Mit jeder Aufweichung, jeder Einschränkung wird das Erreichen des Ziels noch unwahrscheinlicher, als es ohnehin schon war“, zitiert das amerikanische Nachrichtenportal Bloomberg den Chef des Energie- und
Wasserwirtschaftsverbandes Bayern, Detlef Fischer. „Als reiches, entwickeltes Land mit historischer Verantwortung tut Deutschland immer noch zu wenig“, legt Hanna Fekete, Mitbegründerin des New Climate Institute in Berlin, nach.
Laut dem letzten Projektionsbericht des Expertenrates für Klimafragen im Auftrag des Umweltbundesamts (UBA) wird Deutschland bis 2030 331 Millionen Tonnen Kohlendioxid mehr ausstoßen, als das ambitionierte Ziel der Bundesregierung es vorsieht. Die Gesamtlücke bis 2030 beträgt mehr als 40 Prozent der derzeitigen Jahresemissionen. Das geplante Klimaschutzprogramm mit rund 130 Maßnahmen müsse weiter ausgeweitet werden, forderte der Expertenrat im August. Denn Deutschland ist bisher für ein Viertel der energiebedingten
Kohlendioxidverschmutzung der EU verantwortlich, das ist fast so viel, wie seine nächstgrößten Emittenten – Italien und Polen – zusammen ausstoßen. Das liegt vor allem am deutschen verarbeitenden Gewerbe, das stark von fossilen Brennstoffen abhängig ist.
Die Vorsitzende des Bundesverbands Erneuerbare Energien (BEE), Simone Peter, lobt in diesem Fall die bisherigen Anstrengungen derAmpel-Koalition: Die jetzige Koalition habe mehr für die Förderung alternativer Energien getan als jede vorherige Regierung. Dennoch war vor allem die Energiewirtschaft 2022 mit 256 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß oder 34 Prozent von allen Treibhausgasemissionen für die Nicht-Erreichung der Klimaziele verantwortlich. Die sogenannten energiebedingten Emissionen werden überall freigesetzt, wo fossile Energieträger wie Kohle, Erdgas oder Mineralöl in elektrische oder thermische Energie, also Strom- und Wärmeproduktion, umgewandelt werden. Deutschland plant, die Kohleverbrennung bis 2038 einzustellen – das ist ebenfalls viel später als in den meisten anderen EU-Ländern.
Oder hat Deutschland bloß die neue-alte Realität eingesehen? "Was wir nicht verbrauchen, verbrauchen sonst andere“, kritisierte zuletzt der ehemalige Präsident des ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, die deutsche Energiepolitik. Eine Reduzierung der Emissionen sei nur dann möglich, wenn alle an einem Strang ziehen würden. Die amerikanische Öl- und Gasindustrie setzt jedoch mit Zusammenschlüssen – siehe die Fälle Exxon und Chevron – auf „den realen Bedarf“ der Welt und startet trotz der Verpflichtungen der Regierung ein neues globales Wettrüsten um fossile Brennstoffe. Laut der neuesten Studie der Internationalen Energieagentur (IEA) bleiben Erdöl und Erdgas noch lange wichtig.
Der BEE lehnt diese scheinbare Umorientierung ab. Der Einsatz fossiler Brennstoffe wie Öl und Gas sei ursächlich für die Klimakrise verantwortlich, kommentiert der Verband auf Anfrage der Berliner Zeitung, ein „Weiter so“, wie es die Öl- und Gasindustrie möchte, konterkariere die Pariser Klimaziele, weshalb alle Länder umsteuern müssten. Den Eindruck, Deutschland verschärfe die Klimapolitik im Alleingang oder verliere gegen die Nachbarn – siehe den Streit mit Frankreich um den Atomstrom –, findet der Verband falsch. „Im Alleingang sind die Länder, die sich nicht gegen fossile Brennstoffe aussprechen“, besteht der BEE. Deutschland dagegen liege bei der Energiewende im Mittelfeld.
Doch damit die Energiewende klappt, müsste die Klimaschutz-Lobby nicht nur die Politik davon überzeugen, sondern auch die Wirtschaft. Die meisten Unternehmen sehen laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bisher ihr Geschäft durch die Energiewende gefährdet. Der Umstieg auf alternative Energien erfordert mehr Zeit und Investitionen, die einige Unternehmen angesichts höherer Kreditkosten nicht bereit sind zu tätigen, solange Rahmenbedingungen und der Nutzen unklar bleiben. Siemens Energy hat gerade Probleme bei der Windkraftsparte und bittet laut Medienberichten bereits den Bund um Milliardenbürgschaften.
„Für eine erfolgreiche Energiewende braucht die Wirtschaft mehr als den Ausbau von Wind- und Sonnenstrom. Erforderlich ist dringend eine Infrastruktur, die diesen Strom richtig transportieren und speichern kann“, sagt der DIHK-Präsident Peter Adrian. Notwendig seien außerdem neue Infrastrukturen für Wasserstoff- und CO₂-Transport.
„Vor allem für viele Industriebetriebe ist der rasche Zugang zu CO₂-armem Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen überlebenswichtig“, besteht der DIHK-Präsident. Nach aktuellen Umfragen des Branchenverbandes halten rund zwei Drittel aller Unternehmen eine möglichst schnelle flächendeckende Versorgung mit Wasserstoff für notwendig. „Davon sind wir aber meilenweit entfernt: Noch fehlen entsprechende Märkte und damit auch Preissignale“, kritisiert Peter Adrian. Auch hier würden einschlägige Genehmigungsverfahren viel zu lang dauern.
Ein weiteres Beispiel beim Wasserstoff: Die Bundesregierung will bis 2030 bei grünem Wasserstoff eine Kapazität von zehn Gigawatt erreichen. „Damit könnte ein gutes Viertel des geschätzten Gesamtbedarfs an Wasserstoff produziert werden“, so Adrian. Ende 2022 hatte man in Deutschland jedoch nur noch 79 Megawatt zur Verfügung, oder weniger als ein Prozent der Zielvorgabe. „Die Zahlen zeigen, dass wir in Deutschland nur einen kleineren Teil des erforderlichen Wasserstoffs selbst erzeugen können. Der Löwenanteil muss aus dem Ausland, bevorzugt von unseren europäischen Partnern, kommen. Dieses Potenzial ist zwar vorhanden, aber es fehlen Produktionskapazitäten und die Transportinfrastruktur.“
Der Staat sollte also in der Aufbauphase und während des Markthochlaufs von Wasserstoff die Investitionen durch europäische oder nationale Förderungen sowie die Netzentgelte mitfinanzieren. „Andernfalls schließt sich anfangs aufgrund der hohen Kosten niemand an ein neues Wasserstoffnetz an“, warnt die DIHK zum Schluss.
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