Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni 2020, S. 7.
Das Bundesverfassungsgericht hat ein historisches Urteil gefällt. Zum ersten Mal lehnt es eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg ab. Gleichzeitig aber reicht es die Hand zu weiterer Kooperation. Die Karlsruher Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB) ist für den kundigen Beobachter nicht überraschend. Die Kompetenzen der EZB sind seit Jahrzehnten umstritten.
Worum geht es im konkreten Fall? Das deutsche Gericht hatte den Luxemburger Richtern die Frage vorgelegt, ob die EZB noch im Rahmen ihres Mandats handelt, wenn sie ein Programm zum Kauf von Staatsanleihen (Public Sector Purchase Programme - PSPP) in Höhe von rund zwei Billionen Euro auflegt und die damit verbundenen Folgen in Kauf nimmt. Das Unbehagen mancher Mitgliedstaaten ist groß. Im Kampf gegen die gegenwärtige Corona-Pandemie wurde gleichwohl das nächste Anleihenkaufprogramm mit einem Gesamtumfang von 750 Milliarden Euro in Gang gesetzt.
Durch das PSPP wollte die EZB die Inflationsrate in der Eurozone abweichend vom Postulat der Preisstabilität auf knapp unter zwei Prozent erhöhen, um Konsum und Investitionen zu fördern. Doch entstehen gleichzeitig schwerwiegende Folgen für nahezu alle Bürger, für den Immobilien- und Aktienmarkt, die Sparer, die Geld verlieren, die Stiftungen und Versicherungen, die um ihre Existenz ringen. Das
Bundesverfassungsgericht fordert nunmehr von der EZB, diese Effekte im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Eine derartige Abwägung ist der europäischen Rechtsgemeinschaft eine Selbstverständlichkeit. Wer die Folgen seines Handelns nicht einschätzt, läuft Gefahr, unbedachte Schäden anzurichten und sein rechtliches Mandat zu überschreiten. Dieses Mandat ist eng begrenzt, andernfalls hätte die EZB nicht mit Unabhängigkeit ausgestattet werden dürfen. Trotzdem hielt es der Europäische Gerichtshof auf die Vorlagefrage des Bundesverfassungsgerichts nicht für nötig, zu überprüfen, welche Auswirkungen die Durchführung des Programms hat.
Mit der vorliegenden Kontroverse ist die Architektur der Europäischen Union angesprochen. Das Europarecht genießt Anwendungsvorrang. Einem Luxemburger Richterspruch ist in aller Regel Folge zu leisten. Dies gilt aber nur, soweit sich der Richterspruch im Rahmen des vom jeweiligen Mitgliedstaat übertragenen Mandats hält. Der EuGH prüft, ob die Unionsorgane rechtmäßig handeln. Maßstab sind die Unionsverträge. Das nationale Verfassungsgericht hingegen entscheidet über die Tragweite der Zustimmungsgesetze zu diesen Verträgen. Geht ein Organ wie die EZB über ihr Mandat hinaus, ist es zunächst Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs die Grenzen der Europäischen Integration festzustellen. Eine Überschreitung des Mandats ist nicht vom Anwendungsvorrang der Verträge gedeckt. Dem Europäischen Gerichtshof ist die Gefolgschaft zu verweigern, wenn unter mehreren vertretbaren Auslegungen des Rechts keine mehr im Regelungsrahmen des Gesetzes liegt, mit dem Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen wurden. Solange wir nicht in einem Europäischen Staat leben, richtet sich die Mitgliedschaft eines Landes nach seinem Verfassungsrecht. Dies ist keine Besonderheit des deutschen Rechts. Die Mehrzahl der Verfassungsgerichte der EUMitgliedstaaten kennt diese Möglichkeit der Letztkontrolle. Solche Abgrenzungen sind unausweichlich und stellen das Verhältnis zwischen dem EuGH und den höchsten nationalen Gerichten auf eine klare Grundlage.
Mit seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht das Kooperationsverhältnis mit dem EuGH nicht beendet, sondern entfaltet. Eine Kooperation höchster Gerichte erwartet, dass unterschiedliche Rechtsauffassungen nicht verschwiegen, sondern ausgedrückt werden. Nach dem Karlsruher Urteil muss der EZB-Rat nachvollziehbar darlegen, dass die mit dem PSPP angestrebten Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen Folgen stehen. Eine solche Darlegungslast beeinträchtigt die Unabhängigkeit der EZB nicht. So weist Karlsruhe einen Ausweg aus dem Dilemma. Die Darlegungslasten stellen den EZB-Rat nicht vor allzu große Schwierigkeiten. Die Selbstkontrolle führt die Zentralbank näher an ihr Mandat. Das ist im Sinne der Rechtsbindung und damit auch des Europäischen Gerichtshofs. Wird die Kontrolle nicht durchgeführt, ist es der Deutschen Bundesbank untersagt, bei bestandserweiternden Ankäufen mitzuwirken.
Wer nunmehr erwägt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gerade in einem Fall anzustrengen, in dem es um die Bindekraft elementarer Grundsätze der Europäischen Union und der Währungsunion geht, verkennt den Charakter der Union als Gemeinschaft von Rechtsstaaten und die grundlegende Abgrenzung zwischen der Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten und der Union. Er würde ohne Not einen Konflikt schüren, bei dem es keine Gewinner gibt. Der Verlierer aber stünde fest: die europäische Rechtsgemeinschaft. Die Europäische Integration ist in einer kritischen Phase. Es geht nun darum, sich mit mehr Gelassenheit auf die Grundlagen zu besinnen. Der gemeinsame europäische Weg lässt sich nur dann weiter erfolgreich beschreiten, wenn er sich im bestehenden Rahmen bewegt.
Von den Professoren Claus-Wilhelm Canaris, Otfried Höffe, Wolfgang Kahl, Peter Graf Kielmansegg, Gregor Kirchhof, Andreas Rödder, Sarna Röser, Reiner Schmidt, Eberhard Schmidt-Aßmann, Hans-Werner Sinn, Thomas Vesting, Nikolaus von Bomhard, Franz-Christoph Zeitler