Handelsblatt, 10. November 2011, Nr. 218, S. 8.
Hans-Werner Sinn In ihrem Monatsbericht vom Oktober hat die Europäische Zentralbank (EZB) erstmals zum ökonomischen Kern der Target-Problematik Stellung genommen. Dabei bestätigt sie den Sachverhalt, den das Ifo-Institut im Juni in einem Working Paper dargelegt hat. Da die EZB über kein eigenes Rechnungssystem verfügt, folgt sie dem Ifo-Institut bei seinem Weg, die Salden aus den Statistiken des Internationalen Währungsfonds (IWF) herauszurechnen, und kommt zu denselben Zahlenwerten.
Die Öffentlichkeit und manche Journalisten verstehen noch nicht, dass es sich hier um eine gewaltige Kreditvergabe der Bundesrepublik Deutschland an die Krisenländer handelt. So behauptete Olaf Storbeck in dieser Zeitung, die EZB widerspreche der Aussage, dass die EZB von der Bundesbank Kredit bezogen habe. Das tut sie nicht und kann sie auch gar nicht, denn schließlich wird die Target-Forderung, die in der Bilanz der Bundesbank steht, offiziell als Kapitalexport (und damit als Kreditvergabe!) durch das EZB-System bezeichnet.
Target-Salden sind Kredite im EZB-System, die aus der grenzüberschreitenden Verlagerung der Geldschöpfung in einer Währungsunion entstehen. Konkret: Während die Notenbanken der Krisenländer Griechenland, Irland, Portugal und Spanien (GIPS) sowie neuerdings auch Italien weit über den Bedarf ihrer Länder hinaus Geld drucken und an ihre Bürger verleihen, die damit Güter oder Vermögensobjekte im Rest des Euro-Systems erwerben, zieht die Bundesbank ihren Refinanzierungskredit und das von ihr geschöpfte Geld wieder ein. Refinanzierungskredit wird von Deutschland in die GIIPS-Länder (Griechenland, Italien, Irland, Portugal, Spanien) verlagert.
Man hat denselben Vorgang bereits im Bretton-Woods-System, dem bis 1971 geltenden Festkurssystem zwischen den USA und Europa, beobachtet. Die USA bezahlten die Waren und Firmenbeteiligungen, die sie in Europa erwarben, weil hier alles so billig war, mit neu gedruckten Dollar, die die US-Notenbank (Fed) den Banken lieh. Die Dollar wurden von der Bundesbank in D-Mark umgetauscht, und die so geschaffenen "Dollar-D-Mark" verdrängten die durch Bundesbank-Kredit geschaffenen D-Mark-Bestände eins zu eins. Refinanzierungskredit wurde damals von der Bundesbank zur Fed hin verlagert. Es fand ein Kapitalexport durch das Zentralbankensystem von Deutschland in die USA statt. Man sagte damals, die Bundesbank toleriere den Vorgang, um so den Vietnamkrieg mitzufinanzieren.
So wie damals die "Dollar-D-Mark" die "Kredit-D-Mark" in Deutschland verdrängten, verdrängen seit dem Herbst 2007 die "GIPS-Euro" die "Kredit-Euro" in Deutschland eins zu eins. Mittlerweile ist die Bundesbank durch die Kreditverlagerung in die Krisenländer von einem Netto-Gläubiger zu einem Netto-Schuldner des deutschen Bankensystems geworden. Das ist ein unglaublicher Vorgang. Im Süden laufen die Druckerpressen heiß, und die Bundesbank hat ihre Pressen gegen Schreddermaschinen eingetauscht.
Im Bretton-Woods-System konnte die Bundesbank einen Teil der Dollar, die bei ihr angeschwemmt wurden, noch in amerikanische Staatspapiere umtauschen. Die Franzosen schickten gar Kriegsschiffe nach Amerika, um ihre Dollar gegen Gold einzulösen. Daran zerbrach das Bretton-Woods-System bekanntlich.
Heute erhält die Bundesbank als Gegenleistung für ihre Kreditvergabe bloße Forderungen gegen das EZB-System, die nur minimal verzinst sind (derzeit 1,25 Prozent) und von denen man nicht weiß, ob sie sich bei einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone jemals werden eintreiben lassen. Mittlerweile sind 450 Milliarden Euro an Target-Forderungen bei ihr aufgelaufen, davon allein 106 Milliarden Euro im August und September. Das ist der größte Posten in der Bundesbankbilanz, ein erheblicher Anteil des Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland und doppelt so viel Rettungsgeld, wie die Bundesrepublik allein über den EFSF bereitstellen soll. Hätte Europa das US-interne Abrechnungssystem für Target-Salden zwischen den Distrikten der Fed, dann könnte die Bundesbank dafür die Übertragung von marktgängigen, gut verzinslichen Wertpapieren im gleichen Umfang verlangen.
Hochtief, Kaufhof, mittelständische Firmen, Aktien und Immobilien wecken und weckten die Begehrlichkeit der Kapitalanleger aus den Krisenländern, die dafür von ihren Zentralbanken mit frischem Geld versorgt wurden. Mittlerweile kaufen sich nicht nur Spanier, Iren und Griechen in Deutschland ein. Vielmehr kommen jetzt auch die Italiener in hellen Scharen und erwerben mit dem frisch in Italien gedruckten Geld alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Das von Deutschen beim Ausverkauf ihrer Wirtschaft eingenommene Geld landet dann wie beschrieben im Schredder der Bundesbank. Allein in den Monaten August und September sind in Italien, wie die Banca d'Italia gestern mitteilte, durch die italienische Kapitalflucht für 87 Milliarden Euro neue Target-Schulden gegenüber dem EZB-System entstanden. Diese Schulden sind das Gegenstück zu den neuen Forderungen der Bundesbank. Wann wacht die Politik endlich auf und beschäftigt sich mit diesem Vorgang?