Ökonomen unterscheiden zwischen Durchschnitts- und Marginalbetrachtung. Das hilft auch, das Thema Elektromobilität differenzierter zu sehen.
„Irgendwann wird uns niemand mehr einladen. Immer weißt du alles besser, dabei bist du weder Ingenieur noch Physiker“ – so begann die Klage meiner Frau auf der nächtlichen Heimfahrt. Gut, ich hätte unseren Gastgebern gegenüber diplomatischer sein können. Mein Freund, im Selbstanspruch Weltenretter, strahlte zuvor ob seines neuen E-Autos kalifornischer Provenienz und seines deshalb vorbildlichen Beitrags zum Klimaschutz. Aber mein einziger Kommentar war, wie er sich denn als Klimaferkel so fühle.„Irgendwann wird uns niemand mehr einladen. Immer weißt du alles besser, dabei bist du weder Ingenieur noch Physiker“ – so begann die Klage meiner Frau auf der nächtlichen Heimfahrt. Gut, ich hätte unseren Gastgebern gegenüber diplomatischer sein können. Mein Freund, im Selbstanspruch Weltenretter, strahlte zuvor ob seines neuen E-Autos kalifornischer Provenienz und seines deshalb vorbildlichen Beitrags zum Klimaschutz. Aber mein einziger Kommentar war, wie er sich denn als Klimaferkel so fühle.
Das falsche Narrativ
Ich bin mit Sicherheit nicht gegen Elektroautos und als passionierter Fahrradfahrer auch für Großstädte ohne stinkende Abgase, nur wird die gesellschaftliche Diskussion aus Sicht eines Ökonomen und Spieltheoretikers leider auf Basis einer völlig falschen Argumentation geführt. Die Politik sollte auch nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen, indem sie Verbrenner über extreme Grenzwerte de facto verbietet, solange wir den Strom für E-Autos nicht weitestgehend aus erneuerbaren Energien beziehen können. E-Autos liefern entgegen dem politischen Narrativ kurz- und mittelfristig nicht den von allen erwarteten Beitrag zum Klimaschutz. Ganz im Gegenteil, für mindestens noch 15 Jahre führen sie mittelbar zu einer schlechteren CO2-Bilanz.
Mein Freund und ich konnten uns darauf einigen, dass E-Autos einen überragenden Wirkungsgrad haben, dass aber ein Drittel der Energie von der Quelle bis zum Rad verloren geht. Wir waren uns auch noch einig, dass wir im Moment nur 45 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren haben und dass es daher ein Witz sei, so zu tun, als fahre ein E-Auto CO2-neutral – 100 Prozent Klimaneutralität hätten wir erst, wenn auch 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien kämen.
Dann wurde es aber schwierig: Mein Gastgeber ging davon aus, dass beim heutigen Energiemix im Netz ein Benziner nur noch drei Liter verbrauchen dürfte, um mit einem Tesla mitzuhalten. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien gerieten Verbrennungsmotoren aus Klimagesichtspunkten dann, trotz des größeren Energiebedarfs in der Batterieproduktion, vollends ins Hintertreffen.
Jede technische Studie, die ich bei meiner Recherche gefunden habe, stützte seine Denkweise. Das Fraunhofer-Institut schreibt, dass „die CO2-Effizenz vom Strommix abhängt“, oder anders gesagt: je höher der Anteil erneuerbarer Energien im Stromnetz, desto besser die Energiebilanz der Elektrofahrzeuge. Und Volker Quaschning, Professor für regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin, schreibt: „Ein Elektroauto wird physikalisch betrachtet aus dem Strommix geladen.“
Die letzte Kilowattstunde kommt aus fossilen Brennstoffen
Letztere Aussage ist völlig richtig, aber irrelevant für die Frage, welchen CO2-Beitrag das nächste zugelassene E-Auto tatsächlich liefert. Es bedarf dazu keiner Durchschnitts-, sondern einer sogenannten Marginalbetrachtung, die darauf schaut, aus welcher Quelle die nächste zusätzlich benötigte Kilowattstunde kommt. Der Mix ist also nicht entscheidend bei der Bewertung, wie klimafreundlich das nächste E-Auto auf unseren Straßen ist.
Was bedeutet das konkret? Per Gesetz haben die erneuerbaren Energien im Stromnetz Vorfahrt. Im Schnitt decken sie im Moment 45 Prozent des Verbrauchs, aber eben nur in äußerst seltenen Momenten den gesamten Bedarf. Da Atomstrom bald der Vergangenheit angehört, wird der komplette darüber hinausgehende Strombedarf ausschließlich von fossilen Brennstoffen (und von Strom-Importen, für die das Gleiche gilt) gedeckt.
Das heißt, jedes zusätzliche E-Auto erhöht mit seinem gesamten Verbrauch fast immer den Bedarf an fossilen Energieträgern, da es einen zusätzlichen Energiebedarf über der 45-Prozent-Grenze darstellt.
Jedes neue E-Auto hält (noch) Dreckschleudern am Leben
Alle bisherigen Pläne gehen davon aus, dass wir in Deutschland um 2035 den bisherigen Strombedarf ausschließlich aus erneuerbaren Energien decken. Erst ab dann schlagen diese auch Schritt für Schritt positiv auf die Energiebilanz der E-Autos durch. Umgekehrt ausgedrückt: Jedes neu zugelassene Elektroauto hält Deutschland davon ab, die jeweils schlimmste noch am Netz befindliche Kraftwerks-Dreckschleuder abzuschalten. Und dies gilt so lange, bis wir den gesamten Strombedarf aus erneuerbaren Energien decken können.
Wenn die HTW Berlin bei einem Tesla Model 3 von 86 Gramm CO2 pro Kilometer auf Basis des aktuellen Strommix ausgeht, dann heißt das, dass eine ganze Flotte von Teslas im Schnitt 250 bis 300 Gramm zusätzliches CO2 pro Kilometer verursacht. Da können die Verbrenner mehr als gut mithalten.
Die Marginalbetrachtung ist nicht nur eine intellektuelle Übung von Ökonomen – sogar jeder Arbeitnehmer macht sie ganz intuitiv. Wenn ein Mitarbeiter überlegt, ob sich Überstunden nach Steuern für ihn lohnen, dann ist nicht sein Durchschnittssteuersatz mit den Freibeträgen relevant, sondern sein Grenzsteuersatz für die nächsten 500 Euro, die er verdient.
Weniger Nachfrage reduziert nicht die Ölförderung
Abgesehen davon ist es äußerst naiv zu glauben, ein Nachfrageverzicht von uns Europäern bei Öl und Benzin würde eins zu eins auch weltweit zu einem geringeren Verbrauch führen. Die Ölproduzenten haben ihre Ölvorkommen entdeckt und erschlossen. Solange der Ölpreis über den Grenzkosten ihrer Produktion liegt, werden sie das Angebot aufrechterhalten, die Ölpreise werden sinken und energiehungrige, preissensitive Menschen in Schwellenländern werden dankbar sein, dass sie sich nun ein Auto oder einfach mehr Mobilität leisten können.
Ob 70 oder 98 Prozent unserer Öleinsparungen zu Mehrkonsum woanders führen, weiß kein Mensch, denn niemand kennt die Kostenstrukturen von allen Ölherstellern und Nachfrageelastizitäten in Schwellenländern. Der Ex-Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat dieses Phänomen einmal mit einem Klingelbeutel mit Loch verglichen. Fast alle unsere mühsamen Klimaspenden fallen wieder raus.
In der Schlussfolgerung heißt das für die gutwilligen E-Mobilisten, dass sie auf Sicht nicht nur bei uns ein paar Kohlekraftwerke am Laufen halten, sondern auch Verkehr, Staus und Stickstoff in den Großstädten der Schwellen- und Entwicklungsländer erhöhen. Bei meinem Freund habe ich mich trotzdem für meine Provokation entschuldigt und er hat im Gegenzug versprochen, eine Photovoltaikanlage zu bauen – womit er, zumindest bei Sonne, nur noch ein Problem mit dem Klingelbeutel hätte.
Nachzulesen auf www.handelsblatt.com.