Die Presse (ref. Project Syndicate), 29. März 2019, S. 34.
Eine Weile sah es so aus, als könnten Theresa May und ihre konservativen Parlamentsmitglieder allein über den Brexit bestimmen. In einer langen Abfolge taktischer Abstimmungen über allerlei Belanglosigkeiten, bei denen stets das Damokles-Schwert des harten Brexit über den Köpfen hing, hat die Regierung May versucht, die Entscheidung über den Brexit zu manipulieren. Sie hat die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs und ganz Europas zum Narren gehalten. Nun hat sich das Blatt gewendet. Der Speaker des britischen Parlaments, John Bercow, und die Staatengemeinschaft der EU-Länder haben dem unwürdigen Treiben ein Ende gesetzt und verlangen nun eine harte Entscheidung.
Das Austrittsabkommen* darf nach der Entscheidung des Speakers nicht nochmals mit der Alternative des harten Brexit dem Parlament vorgelegt werden, und die EU ist nicht bereit, dieses Abkommen zu ändern. Sie hat die Frist für den Austritt verlängert, doch gibt sie inhaltlich keinen Zentimeter nach. Das britische Parlament kann nun bis zum 12. April faktisch nur noch zwischen drei Möglichkeiten wählen. Erstens: Das Brexit-Abkommen wird angenommen. Dann wird der Austritt zum 22. Mai, dem Tag vor dem Beginn der Wahlen zum Europäischen Parlament, technisch vollzogen. Zweitens: Großbritannien nimmt an den Europawahlen teil und verspricht, später ein zweites Referendum durchzuführen. Dann wird eine sehr weitreichende Fristverlängerung gewährt, lang genug, um die rechtlichen Voraussetzungen für das Referendum zu schaffen. Drittens: Das Parlament ringt sich zu gar nichts durch, weder zur ersten noch zur zweiten Möglichkeit. Dann wird der harte Brexit zum 12. April vollzogen.
Freiheiten verschenken?
Da es May nicht gelungen ist, ein neues Austrittsabkommen zu bekommen, scheidet, wenn der Speaker nicht vom Parlament überstimmt wird, der harte Brexit bei einer erneuten Abstimmung aus, und es muss zwischen dem geordneten Brexit und einem zweiten Referendum entschieden werden. Bei diesem neuen Referendum müsste die Bevölkerung dann wohl zwischen einem geordneten Brexit und einem Verbleib entscheiden, denn niemand wird es wagen, dem Volk den harten Brexit als Entscheidungsalternative anzubieten.
Während die Rücknahme der Austrittsentscheidung vor Kurzem noch als unwahrscheinlich erschien, haben die neuen Festlegungen des Speakers und der EU nun ein ganz neues Spiel eröffnet, bei dem die Möglichkeit eines Verzichts auf den Brexit auf einmal dramatisch an Wahrscheinlichkeit hinzugewonnen hat. Das macht all den Spekulanten, die an den Finanzmärkten auf den Austritt gewettet haben, einen Strich durch die Rechnung, und das ist gut so. Es ist gut für das Vereinigte Königreich und für die EU.
Vor drei Jahren hat sich das Volk mit knapper Mehrheit für den Austritt entschieden, aber es wusste nicht recht, was es tat, denn außer romantischen Vorstellungen von der Wiederbelebung des Commonwealth hatten die wenigsten Wähler klare Vorstellungen über das, was ein Austritt bedeuten würde. Das ist heute, nachdem das Austrittsabkommen verhandelt wurde, ganz anders.
Jeder Brite weiß nun, dass das Austrittsabkommen eine Zollgrenze für Menschen, Dienstleistungen und Kapital in der Irischen See und damit im Inneren des Vereinigten Königreichs impliziert. Nur Waren dürfen ohne Kontrollen und Hemmnisse diese Grenze überschreiten. Für Nordirland gelten indes im Wesentlichen alle vier Grundfreiheiten weiter: Kapital, Dienstleistungen, Menschen und Güter können sich zollfrei und unkontrolliert über die Grenze zur EU hin bewegen.
Damit ist nicht nur die Integrität des Vereinigten Königreichs gefährdet, sondern sogar die Integrität Großbritanniens selbst. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass die Schotten mittelfristig ein weiteres Referendum über die Abspaltung von Britannien durchführen werden, wenn sie sehen, dass die Nordiren mit ihrer Nähe zur EU den besseren Deal gemacht haben.
Das Volk weiß mehr als 2016
Der Informationsstand über die Entscheidungsalternativen ist heute im Volk sehr viel besser als noch vor drei Jahren bei der Abstimmung. Angesichts der damals nur knappen Mehrheit für den Brexit ist ein neues Referendum heute angebracht. Wenn Großbritannien eine echte Demokratie sein will, dann muss sich das Parlament nun endlich dem Volk unterwerfen und es selbst entscheiden lassen, ob es in der EU verbleiben oder das Austrittsabkommen annehmen möchte. Es geht nicht an, dass die gewählten Parlamentarier ihr unwürdiges Spiel mit der Drohung eines harten Brexit noch weitertreiben.
Nachzulesen auf www.diepresse.com sowie auf www.project-syndicate.org.
Vortrag: Die Bedeutung des Brexit für Europa, Cambridge Judge Business School, 4. März 2019.