Herr Professor Sinn: Die wichtigsten Krisen der vergangenen Jahre – Lehman-Pleite, Euro-Krise und Corona-Pandemie – werden von den Staaten mit Schulden gelöst. Was spricht eigentlich dagegen, das ewig so weiterzumachen?
Das geht nicht endlos. Jede Schuldenaufnahme hat zwei Phasen. Zuerst hat man das Geld zur Verfügung, kann es ausgeben und Notlagen überwinden. Danach kommt die Phase, wo zurückgezahlt werden muss. Das ist eine Phase des Darbens. Wenn nicht zurückgezahlt werden kann oder wenigstens die Zinsen gezahlt werden können, steht am Ende der Konkurs.
Gilt das auch für Staaten?
Die Welt hat seit dem Krieg über 180 Staatskonkurse oder Schuldenschnitte gesehen, die einem Konkurs ähnlich waren. Zwei fanden sogar in der Eurozone statt, und zwar 2012 und 2015 in Griechenland. 2012 kostete der Konkurs die privaten Gläubiger 105 Milliarden Euro und die öffentlichen über 40 Milliarden Euro, wenn man die Stundungen und Zinssenkungen umrechnet. 2015 hat der ESM den Konkurs sogar formell festgestellt. Das Land wurde gerettet, weil andere Staaten gebürgt haben, auch über die Maßnahmen der EZB.
Sie haben berechnet, dass das Zentralbankgeld der Eurozone bis 2022 auf über sechs Billionen Euro, also über 6000 Milliarden Euro ansteigen wird. Etwa 3300 Milliarden Euro fallen allein als EZB-Maßnahmen in der Corona-Krise an. Welche Gefahren birgt diese Entwicklung?
Es gibt zwei Gefahren. Die erste ist die sogenannte „Zombifizierung“ der Wirtschaft. Unternehmen, die eigentlich nicht mehr produktiv arbeiten, können angesichts der Nullzinsen weiterwursteln, anstatt neuen Start-ups Platz zu machen. Eine Zombie-Wirtschaft verliert ihre Dynamik, sie wächst nicht mehr. Wir haben das in Japan gesehen: Das Land hat durch die hohe Verschuldung gepaart mit der dramatischen Ausweitung der Geldmenge seine ganze Dynamik verloren.
Japan ist ein eher altes Land, braucht man dort die Dynamik überhaupt?
Gerade eine ältere Bevölkerung braucht eine dynamische Wirtschaft. Die muss produktiver sein, weil es nicht mehr genug junge Arbeitskräfte gibt.
Und was ist die zweite Gefahr?
Die Inflation. Das Geld wird heute zwar von Banken, Unternehmen und Haushalten gehortet. Diese Horte begründen eine sogenannte Liquiditätsfalle: Sie kann man daran erkennen, dass die Menge des Zentralbankgelds exorbitant gestiegen ist und weiter steigt, während erweiterte Geldaggregate, die das durch Kredit geschaffene Giralgeld der Banken umfassen, sich ganz normal weiterentwickeln – also nicht im Ansatz so stark steigen wie das Zentralbankgeld. Das kann sich aber alles ändern.
Wo liegt das Problem?
Wenn die Wirtschaft nach der Krise wieder anspringt, kann die EZB nicht verhindern, dass dieses Geld aus den Horten in den Kreislauf der realen Wirtschaft fließt. Bei einer Versechs- bis Versiebenfachung der Geldmenge kann man sich vorstellen, dass dieser Prozess von den Zentralbanken nicht mehr gebremst werden kann, zumal mit dem neuen Geld für etwa 3500 Milliarden Euro Staatspapiere gekauft wurden, die man schwerlich wieder verkaufen kann, ohne die Staaten des Mittelmeerraums in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist, als würde man ein Auto mit einer kaputten Bremse fahren. Das mag eine Weile gut gehen. Solange der Weg ansteigt, kann man die Geschwindigkeit auch mit dem Gaspedal regulieren. Aber man weiß nicht, wann es abschüssig wird. Dann aber könnte man nicht mehr reagieren. Das ist die Situation, in die sich die EZB manövriert hat.
Was sind die Folgen, wenn das Geld in ungebremster Form in den Kreislauf gerät?
Dann steigen die Preise. Wenn die Leute das merken, geben sie ihr Geld nur noch schneller aus und die Preise steigen noch mehr.
Von einer Inflation sind wir allerdings noch weit entfernt, die EZB schafft ja nicht einmal ihr eigenes Ziel von zwei Prozent.
Richtig, weil das Geld in der Krise gehortet wird. Die Leute geben es nicht aus. Das geht bis hin zu den Banken. Dies aber verleitet die EZB zu der irrigen Annahme, dass man die Horte beliebig vergrößern könne.
Wie groß können die Horte denn werden?
Das hängt davon ab, wie lange die Krise dauert. Niemand kann sagen, wann das Gelände abschüssig wird. Es ist jedenfalls fahrlässig, sich auf eine Fahrt ohne Bremsen einzulassen.
Wurde die Bremse überhaupt schon einmal verwendet, seit es den Euro gibt?
Nein, nicht wirklich. Aber vor 2008 hätte man sie zumindest betätigen können, denn da war die Geldmenge noch nicht aus dem Ruder gelaufen. Danach begann die Phase, während der die Staaten letztlich aus der Druckerpresse gelebt haben.
Ist eine Inflation unausweichlich? Kann man sie vorhersehen?
Nein. Vielleicht kommt der Abhang gar nicht, wo die Bremse gebraucht wird. Aber darauf darf man nicht bauen. Auch die Epidemie konnte man nicht sicher vorhersehen. Nachdem der Bundestag 2012 offiziell in einem wissenschaftlichen Gutachten über die Gefahren informiert wurde, hätte er handeln müssen, doch tat er es nicht. Die Politik neigt dazu, mit Maßnahmen zu warten, bis es zu spät ist. So ist es auch bei den Geldhorten und der Inflation. Ich würde mich im Übrigen nicht wundern, wenn wir eines Tages beides bekommen – eine Inflation und eine Zombifizierung. Wir sprechen hier von einer Stagflation.
Wenn Sie jetzt EZB-Chef wären, wie würden Sie gegensteuern?
Vorausgesetzt, die Impfungen verlaufen erfolgreich, würde ich versuchen, die vielen Wertpapiere sukzessive wieder zu verkaufen, um die Geldmenge allmählich zu reduzieren, bis die Zinsen wieder anziehen und die Bremse wieder funktioniert. So würde das Sparvermögen gerettet und es würden sich gesunde Wirtschaftsstrukturen in Europa entwickeln.
Warum macht die EZB das nicht so?
Ich weiß es nicht. Führende ehemalige Zentralbanker aus verschiedenen Ländern haben letztes Jahr ein Memorandum gegen die EZB-Politik veröffentlicht, in dem sie den Verdacht äußerten, dass die EZB die überschuldeten Länder Europas vor höheren Zinsen schützen will. Aus einem ähnlichen Grunde kann man davon ausgehen, dass die Angst der EZB vor einer Inflation nicht so ausgeprägt ist wie in Deutschland, denn in der Inflation erodieren die Schulden.
Könnte die Eurozone aus den Schulden herauswachen?
Theoretisch schon, aber praktisch kaum. Die südeuropäischen Länder und Frankreich haben immer behauptet, sie würden durch Schulden das Wachstum ankurbeln und dann aus den Schulden herauswachsen. Das hat aber leider nie gestimmt. Sie gerieten immer tiefer in den Schuldensumpf. Ich sehe keine Trendwende. Das wird immer so weitergehen, solange die EZB nicht umstrukturiert wird. Heute hat Deutschland dort in etwa so viel zu sagen wie Malta.
Sie meinten vorhin, wenn der Staat seine Schulden nicht bezahlen kann, dann droht der Konkurs. Wann beginnt dieser Prozess?
Der beginnt, wenn die Kapitalmärkte das Vertrauen verlieren und dem Staat kein Geld mehr leihen wollen. Wir haben das ja bei Griechenland in den Jahren 2012 und 2015 gesehen. Aber noch mal: Die Konkursgefahr ist im Euroraum durch die Gemeinschaftshaftung und die Monetarisierung der Staatsschulden unterdrückt worden. An die Stelle traten die Zombifizierung und die Inflationsgefahr. Deutschland wird sich nicht zum Argentinien Europas entwickeln, aber wir können auch nicht beliebig viele Länder, die die Schuldenregeln des Maastrichter Vertrages massiv verletzten, über Wasser halten. Die deutsche Staatsverschuldung ist zwar gestiegen und strebt gegen 80 Prozent des BIP. Aber das ist doch weit entfernt von Frankreich mit perspektivisch 120 Prozent, Italien mit 160 Prozent oder gar Griechenland mit über 200 Prozent. Dennoch muss Deutschland aufpassen, dass es sich mit seinen Bürgschaften nicht übernimmt und auch in den Schuldensumpf hineingerät.
Wäre eine Umkehr in Deutschland noch möglich?
Natürlich. Wir haben das ja auch nach 2010 gemacht. Nach der Rettung der Banken hatten wir eine Schuldenquote von 80 Prozent. Wir sind aber danach wieder zur schwarzen Null zurückgekehrt. Zum Glück haben wir die Schuldenbremse, die uns dazu zwingt. Sonst würden wir längst nicht so gut dastehen.
In der Pandemie ist es allerdings richtig, dass die Staaten aus dem Haushalt Geld in Umlauf gebracht haben?
Selbstverständlich. Kein Unternehmen, das lebensfähig ist, sollte durch die Pandemie in Konkurs gehen müssen. Rettungsschirme sind wichtig für Unternehmen, die nach der Krise wieder durchstarten können. Allerdings war es ein Fehler, vor dem Sommer Konjunkturprogramme zur Belebung der Nachfrage aufzulegen. Die haben die Leute wieder in die Läden gelockt. Auch dadurch sind die Fallzahlen wieder gestiegen. Jetzt sind die Läden wieder zu und die Konjunkturprogramme kommen nur noch den Versandhändlern zugute, die aber sowieso schon genug zu tun haben.
Welche Lösungen sehen Sie für die Eurozone, wenn die Corona-Krise einmal überwunden ist?
Für die langfristigen Gefahren, die ich beschrieben habe, gibt es keine einfachen Lösungen. Ich denke, man sollte irgendwann über eine Restrukturierung der Eurozone nachdenken und Regeln für den geordneten, aber freiwilligen Austritt aus der Eurozone vereinbaren. Ministerpräsident Papandreou wollte Griechenland 2012 nach einem abgelehnten Referendum aus dem Euro herausführen. Das kriegten andere mit und verwehrten ihm das Referendum und damit den Austritt. Er behauptet aber heute noch, dass das besser für sein Land gewesen wäre. Solche Lösungen will die hohe Politik partout nicht. Man will mit Geld und Gemeinschaftsschulden den Euroraum so zusammenhalten, wie er ist.
Warum ist das Schuldenmachen ein Problem für die Zukunft?
Man kann Geld zwar beliebig drucken, doch nicht die Güter des täglichen Bedarfs. Wir leben nicht im Schlaraffenland. Jede Generation muss sich dafür verantworten, wie sie mit den ökonomischen Ressourcen umgegangen ist. Die hohen Staatsschulden werden auch Folgen haben für die Renten derer, die heute Mitte fünfzig sind. Wenn die sogenannten Babyboomer in zehn Jahren eine Rente von Kindern verlangen, die sie nicht haben, wird es eng beim Staat. Je höher die Staatsschulden, die die wenigen Nachkommen dann schultern müssen, desto enger wird es. Wir müssen heute eine nachhaltige Politik machen, die verhindert, dass den nachfolgenden Generationen Lasten aufgebürdet werden, die sie nicht mehr stemmen können, und dazu gehört es, weniger Schulden zu machen und zu einem normalen Zinsregime zurückzukehren.
Das Interview führte Michael Maier.