Finanz und Wirtschaft (ref. Project Syndicate, 18. Januar 2021), 19. Januar 2021, "Europe's Vaccination Debacle", Project Syndicate, 18. Januar 2021, The Guardian (UK) und Finanz und Wirtschaft, 19. Januar 2021.
In Europa tobt ein heftiger Streit um die, Frage, warum die EU so wenig von den zugelassenen Covid-Impfstoffen bestellt hat. Der CEO der US-Firma Moderna, Stéphane Bancel, die nun nach BioNTech auch eine Zulassung ihres Impfstoffes erreicht hat, meint, die EU habe sich zu sehr auf die „Impfstoffe der eigenen Labore“ verlassen. Da klingt so, als hätte die EU-Kommission die Förderung der eigenen Pharmaindustrie über den Schutz von Menschenleben gesetzt.
Nun, ganz so einfach ist es nicht, denn anders als Bancel es glauben machen will, ist es ja vor allem der eigene Impfstoff, von dem die EU zu wenig bestellt hat. Immerhin stammt der Impfstoff, der derzeit fast ausschließlich in der westlichen Welt gespritzt wird, von der deutschen Firma BioNTech und damit aus der EU selbst, ungeachtet des Umstandes, dass der BioNTech-Impfstoff auch von den Kooperationspartnern Pfizer in den USA und Fosun Pharma in China produziert wird. Bemerkenswert ist somit nicht, dass die EU zu wenig amerikanischen Impfstoff bestellt hat, sondern dass sie sich zurücklehnte, als andere Länder, vor allem die USA, sich mit dem Impfstoff aus den Laboratorien eines EU-Landes eindeckten.
Anstelle des vermuteten EU-Nationalismus war es wohl eher die Unbeweglichkeit der EU als Institution und die Schwierigkeit der Koordination unterschiedlichster Länderinteressen, die für das Impfdebakel verantwortlich ist. Einigen Ländern waren die RNA-basierten Impfstoffe zu teuer, einige waren gegenüber den neue gentechnischen Methoden skeptisch eingestellt, andere hielten alles für weniger dringlich, weil sie dachten, die Epidemie sei schon überwunden.
Und ja, auch eine inner-europäische Rivalität zwischen verschiedenen nationalen Impfstoffherstellern hat wohl dazu beigetragen, dass die EU nicht bereit war, den deutschen Impfstoff bereits im Sommer zu kaufen, als die Amerikaner es taten. BioNTech, der kleine Start-up aus Mainz, hatte kaum eine Chance, sich in Brüssel gegenüber den Lobbys der etablierten europäischen Impfstoffhersteller, die dort auftrumpften, Gehör zu verschaffen.
Was immer die Gründe im Einzelnen gewesen sein mögen, die Verzögerung in der Belieferung der EU-Staaten mit Impfstoffen als solche ist ein Faktum, an dem auch die intensivsten Beteuerungen der EU-Kommission nichts ändern können. Während die USA, Großbritannien, Japan und Kanada bereits im Juli und August große Chargen des Biontech-Impfstoffs für sich gesichert haben, kaufte die EU zunächst selbst nur die Impfstoffe von Sanofi und Astra Zeneca, die aber beide bei den Tests floppten. Erst als die Medien protestierten, weil BioNTech die Nase im Wettrennen um die Zulassung vorn hatte, kam es schließlich im November zu den ersten Abschlüssen mit BioNTech, denen im Dezember und Anfang Januar weitere Abschlüsse folgten, auch solchen mit der US-Firma Moderna.
Das reicht nun zwar, doch kommen die Lieferungen viel zu spät. Bevor nämlich die Impfstoffe an Europäer in hinreichender Menge ausgeliefert werden können, müssen die Hersteller ihre Produktionskapazitäten ausbauen, da sie ja vorrangig jene Käufer bedienen müssen, die zuerst bestellt haben. So kommt es, dass die Fernseh-Bilder von den leeren Impfzentren, denen der Impfstoff fehlt, und den überfüllten Intensivstationen der Krankenhäuser das Entsetzen der EU-Bevölkerung Tag um Tag steigern. Nach Lage der Dinge wird die EU keine Chance haben, bis zum Sommer mit Ländern wie den USA, Großbritannien oder Israel gleichzuziehen, die sehr viel schneller impfen.
Die EU beruft sich darauf, dass sie anfangs noch nicht wusste, welche Hersteller Erfolg haben würden. Deswegen habe sie die Bestellungen diversifiziert. Das ist ein wohlfeiles Argument, denn sie hat von keinem Hersteller auch nur annähernd genug gekauft, um damit die Bevölkerung immunisieren zu können, falls nur einer der Impfkandidaten erfolgreich gewesen wäre – eine Möglichkeit, die man sicherlich nicht ausschließen konnte.
Hätte sie von allen sechs Herstellern, mit denen sie Verträge schloss, so viel auf Risiko gekauft, dass der Impfstoff für zwei Drittel der EU-Bevölkerung reicht, so hätte sie dafür insgesamt 29 Milliarden Euro gebraucht. Das ist das Sozialprodukt, das der EU während der Pandemie in 10 Tagen verloren geht. Und da sich nun gar zwei Impfkandidaten als erfolgreich erwiesen haben, hätte sie überschüssige Impfstoffe höchster Qualität an 300 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern verschenken können.
Das europäische Impfdebakel kann man nicht einzelnen Entscheidungsträgern in der Politik in die Schuhe schieben. Es zeigt aber, dass die Grundsatzentscheidung, die die EU-Länder im Sommer 2020 getroffen hatten, den Erwerb der Impfstoffe der EU-Kommission zu überlassen, falsch war. Gemäß § 5 des EU-Vertrages muss die EU das Subsidiaritätsprinzip beachten und darf nur tätig werden, wenn sie nachweislich effizienter agieren kann, als ihre Mitgliedsstaaten das in eigener Regie könnten. Dieser Grundsatz wurde bei der Impfstoffbestellung sträflich vernachlässigt, denn für die Zentralplanung bei der Bestellung der Impfstoffe gibt es weder eine rechtliche Basis in den EU-Verträgen noch eine ökonomische Begründung.
Hätten die EU-Länder die Impfstoffe selbständig und im direkten Wettbewerb mit anderen Ländern der Welt ordern dürfen, so hätten sie vielleicht einen etwas höheren Preis bezahlt, doch hätten sie ihre Bestellungen allesamt sehr viel früher abgegeben, um nicht den Kürzeren zu ziehen. Und mit den früheren Bestellungen hätten die Produzenten viel früher in die Ausweitung der Produktionskapazitäten investieren können. Das durch durch die Zentralplanung und den Lobbyismus der etablierten Hersteller verursachte Impfstoffdebakel hätte dann vermieden werden können.
Nachzulesen auf www.project-syndicate.org sowie auf www.fuw.ch.