Münchner Merkur, 19. März 2021, Nr. 65, S. 5.
Seit einem Jahr bestimmt die Corona-Pandemie das Leben von Millionen Menschen in Deutschland. Wenn Sie der Bundesregierung und den 16 Landesregierungen eine Schulnote für die Pandemie-Bekämpfung geben könnten: Welche wäre das?
Ein „ausreichend“.
Das heißt, da hätte vieles besser laufen können?
Es ist ja nicht alles schlecht gelaufen. Im Sommer hätte ich der Politik noch ein „Gut“ gegeben, weil sie die erste Welle erfolgreich gemeistert hat. Für die Zeit nach dem Sommer gibt es von mir aber ein „ungenügend“, insgesamt daher die Durchschnittsnote „ausreichend“.
In der Schule ist eine „ungenügend“ eine glatte 6. Was ist nach dem Sommer schiefgelaufen?In der Schule ist eine „ungenügend“ eine glatte 6. Was ist nach dem Sommer schiefgelaufen?
Bei der Impfstoffbeschaffung sind fundamentale Fehler gemacht worden. Es war falsch, die Sache der EU zu überlassen. Die EU hat sich intern nicht einigen können, sie wollte die Preise drücken. Das Ergebnis war, dass die EU ihren Impfstoff erst im November bestellt hat, während die Amerikaner bereits im Juli und viele anderen Länder im August bestellt haben. Weil die EU die Preise gedrückt hat, gab es für die Impfstoffhersteller überhaupt keinen Anreiz, zuerst die Europäer zu beliefern. Jetzt müssen wir uns hinten anstellen.
Sie sind Jahrgang 1948. Haben Sie Ihre Spritze schon bekommen?
Nein, natürlich nicht. Aber meine Freunde in Amerika sind alle geimpft, meine Freunde in Israel sind ohnehin schon lange geimpft, und meine Freunde in Großbritannien sind natürlich auch schon geimpft. Dieses Bild finden wir auch in den Statistiken: Die Länder, die selbstständig bestellt haben, sind früher an den Impfstoff gekommen. Die Briten triumphieren geradezu, sie können nicht nur viele Todesfälle vermieden, sie werden auch einen sehr viel früheren wirtschaftlichen Aufschwung bekommen.
Wie konnte es dazu kommen, dass die EU versagt hat?
Das war leider ein politischer Fehler der Kanzlerin. Sie hat die Impfstoffbeschaffung wegen der deutschen Ratspräsidentschaft der EU überlassen, ungeachtet des Umstandes, dass die Gesundheitspolitik nach den europäischen Verträgen gar nicht Aufgabe der EU ist. Dass die EU versagt, wundert mich gar nicht.
Warum?
Die EU steht für zentralplanerische Lösungen. Die hören sich immer gut an. Solidarität und günstigere Preise zu erzielen waren scheinbar überzeugende Argumente. Tatsächlich musste aber der kleinste gemeinsame Nenner bei sehr unterschiedlichen Länderpräferenzen gefunden werden, und die Verhandlungen über Preise und Haftungsübernahme erwiesen sich als zeitraubend und kontraproduktiv. Am Ende wurde viel zu spät bestellt. Die Hersteller bauten ihre Kapazitäten entsprechend später aus, und dann lieferten sie bevorzugt an Länder, die mehr zu zahlen bereit waren. Die zentrale Beschaffung einer knappen Ware funktioniert in der Praxis nie. Das haben 50 Jahre Kommunismus gezeigt. Trotzdem versucht man es immer wieder, und jedes Mal holt man sich aufs Neue eine blutige Nase.
Was wäre die Alternative gewesen?
Die Einzelstaaten hätten jeweils für sich kaufen sollen. Das hätte die Preise hochgetrieben und so die Impfstoffproduktion forciert, weil die Anbieter früher und mehr in den Aufbau von Produktionskapazitäten investiert hätten. Das ist der Marktmechanismus, der besser als jeder andere in der Lage ist, Knappheiten zu überwinden. Man hätte es sogar privaten Impfstellen wie Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern erlauben können, sich weitere Impfstoffe auf dem Weltmarkt zu besorgen. Die Kosten für die Impfstoffe wären auf diese Weise zwar höher gewesen, doch wären sie immer noch ein Klacks im Vergleich zu den wirtschaftlichen Vorteilen eines früheren Ausstiegs aus dem Lock-down gewesen, und tausende von Todesfällen hätten vermieden werden können. Die EU-Länder wären auf diese Weise früher zu ihren Impfstoffen gekommen.
Wie weit wären wir dann jetzt schon?
Deutschland hat aktuell eine Impfquote erreicht, die der englischen vor zwei Monaten entspricht. Viel zu viele Menschen sind in dieser Zeit gestorben. Ähnlich verhält es sich beim Vergleich mit den Impfquoten der USA. Und das wirklich Ärgerliche ist ja, dass in Großbritannien und den USA überwiegend der in Deutschland entwickelte Biontech-Impfstoff verimpft wird. Das ist einfach nicht in Ordnung.
Lässt sich beziffern, welcher wirtschaftliche Schaden durch die vergleichsweise langsame Impf-Politik entstanden ist?
Was ich einmal ausgerechnet habe, ist folgendes: Hätte die EU im Sommer von allen sechs Impfstoffkandidaten so viel gekauft, dass sie die gesamte EU-Bevölkerung damit hätte impfen können, wären Kosten in Höhe von knapp 30 Milliarden Euro entstanden. Das ist vergleichsweise wenig, wenn man bedenkt, dass die Pandemie in der EU alle sieben bis zehn Tage 30 Milliarden Euro an Sozialprodukt kostet. Und meinetwegen hätte der Bieterwettbewerb die Kosten verdoppelt. Das wäre immer noch völlig unerheblich gewesen im Vergleich zu den wirtschaftlichen Schäden der Lockdowns.
In Deutschland gilt eine strenge Priorisierung von Impfgruppen. Wäre es in der Zeit, den Impfstoff für alle freizugeben?
Das wäre im Moment die richtige Strategie, wenn man genügend Impfstoff hätte. Jetzt sind wir aber im Bereich der sozialistischen Mangelverwaltung, und da bedarf es solcher Regeln. Die Milch im kommunistischen Polen musste man ähnlich verwalten wie heute den Impfstoff in Deutschland. In den nächsten Jahren werden wir aber Strategien für den Kampf gegen die Mutanten entwickeln müssen. Dafür sollten wir uns schon jetzt wappnen, indem wir mehr marktwirtschaftliche Anreize setzen.
Sollten diese Menschen, die eine Spritze erhalten haben, wieder ein weitgehend normales Leben führen dürfen?
Ja, natürlich. Dem Geimpften dürfen die Freiheitsrechte, die ihm die Verfassung gewährt, nicht verwehrt werden.
Also Restaurantbesuche, Urlaubsreisen und Stadionbesuche für Geimpfte?
Ja, sicher. Man braucht einen Impfpass – und mit dem ist wieder alles erlaubt. Es ist doch nicht sinnvoll, aus Gleichheitsgründen Menschen Rechte zu verweigern, deren Nutzung anderen gar nicht schadet. Das schadet ihnen nur im Sinne eines Neidgefühls, aber nicht objektiv.
Bei aller Kritik an der Impfpolitik: Können Sie zumindest die Lockdown-Politik nachvollziehen? Ihr Nachfolger am ifo Institut, Clemens Fuest, hatte sich im Herbst recht früh für einen zweiten Lockdown ausgesprochen und immer wieder davor gewarnt, zu früh zu lockern. Teilen Sie diese Ansicht?
Ja, ich verstehe Herrn Fuest sehr gut. Angesichts der Impfmisere bleibt der Politik ja am Ende nur noch ein langer zweiter, wenn nicht gar dritter Lockdown. Irgendwie muss man ja die Infektionszahlen wieder runterkriegen. Aber das hätte im Herbst alles gar nicht so schlimm kommen müssen, wäre die Politik besser vorbereitet gewesen.
Wie denn?
Warum es ein ganzes Jahr gedauert hat, bis es jetzt endlich flächenmäßig Tests für jedermann gibt, erschließt sich mir nicht. Auch nicht, warum in der Corona-Warn-App der Datenschutz so hoch gehalten wurde. Warum sehe ich auf einer Landkarte meines Handys nicht, wo sich derzeit die lokalen Infektionsherde befinden? Warum ist der Datenschutz wichtiger als der Menschenschutz? Ich begreife auch das nicht.
Wie bewerten Sie die Reaktionen der Politik zur Stützung der Wirtschaft?
Die Verschuldung zum Zwecke der Rettung von Geschäftsmodellen, die nur während der Corona-Krise lädiert sind, war richtig. Es war jedoch nicht richtig, im Sommer ein explizites Konjunkturprogramm aufzulegen, dass die Menschen wieder in die Läden trieb – denn dadurch erhöhten sich nur wieder die Kontakte. Es macht keinen Sinn, in einer epidemiologischen Krise Maßnahmen zur Erhöhung der Kauflust zu ergreifen.
Warum?
Konjunkturprogramme sind dann nötig, wenn man will, dass die Leute wieder in die Läden gehen und die Läden auf sind. Am Ende hat von den Konjunkturprogrammen vor allem der Versandhandel profitiert – und nicht die Händler in den Innenstädten oder die Gastronomie. Die Inhaber dieser Geschäfte sind jetzt völlig verzweifelt. Ihnen half das Konjunkturprogramm nicht.
Insgesamt ist die deutsche Wirtschaft erstaunlich robust durch die Krise gekommen. Woran liegt das?
Die deutsche Wirtschaft ist sehr außenhandelsabhängig und profitiert von der Auslandsnachfrage. Weil die Chinesen jetzt wieder durchstarten, wird auch der deutsche Export beflügelt.
Wann ist die Corona-Krise aus rein wirtschaftlicher Sicht vorbei?
Im Herbst werden die meisten geimpft sein. Dann kommt ein Konjunkturaufschwung. Damit er hält, müssen wir ihn durch eine neue Strategie für den Erwerb von Impfstoffen gegen neue Mutanten absichern.
Das Interview führte Sebastian Hölzle.
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