Der frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt hat den Scheidegger Friedenspreis erhalten. Warum Laudator Hans-Werner Sinn seinen Freund mit dem großen Staats-Reformer Montgelas vergleicht.
Wenn heute von "blühenden Landschaften" im Osten die Rede ist, gilt das in erster Linie für Sachsen. Die Entwicklung des Freistaates ist nicht zuletzt einem zu verdanken: Georg Milbradt. Der frühere Ministerpräsident aus Dresden hat am Samstagabend im Kurhaus den Scheidegger Friedenspreis erhalten. "Der Preis ist in hohem Maße angemessen", sagt Laudator Hans-Werner Sinn. "Wenn Sachsen funktioniert, gibt es keinen, der vor Georg Milbradt zu nennen wäre." Der Ökonom kennt Milbradt seit einer gemeinsamen Zeit an der Uni in Münster.
Zum zwölften Mal hat Scheidegg den Friedenspreis verliehen. In der Vergangenheit ist die Auszeichnung vor allem an Persönlichkeiten gegangen, die sich rund um den Mauerfall für die Einheit eingesetzt haben. Insofern tanzt Milbradt aus der Reihe. Der Finanzwissenschaftler betrat die große politische Bühne später, setzte sich dann aber "wie kaum ein anderer für den Wiederaufbau ein", wie es der Stifter des Preises, Manfred Przybylski, erklärt.
Kurt Biedenkopf holte Milbradt 1990 als Finanzminister in das sächsische Kabinett. Der Finanzwissenschaftler hatte da nicht nur erste Meriten an der Hochschule erworben, sondern auch schon praktische Erfahrungen gesammelt. Von der Uni war er als Kämmerer an die Stadt Münster gewechselt. In Dresden traf er erst einmal auf das "Chaos der untergegangenen DDR" (Sinn). Es gab keine politischen Strukturen vergleichbar denen im Westen, ja nicht einmal einen Freistaat Sachsen. "Behörden aufbauen, Gemeinden mit einer Verfassung versehen, die ihnen Autonomie gab", beschreibt Sinn die Herausforderungen. Und: "Das Rechtssystem musste aufgeschrieben und in praktische Politik umgewandelt werden."
Sinn vergleicht die "großartige Leistung" Milbradts beim Aufbau des Ostens mit der von Montgelas. Das ist gleichbedeutend mit höchstem Lob. Graf Montgelas hat im 19. Jahrhundert die bayrische Verwaltung von grundauf modernisiert, nach ihm sind Straßen und Plätze benannt.
Milbradt selber gewinnt der schwierigen Lage 1990 im Rückblick durchaus etwas Positives ab. "Als Minister in München oder Berlin können sie nicht ganz von vorne anfangen. So ein Neuanfang ist ein großes Privileg.", sagt er. Er startete - finanzwirtschaftlich - ohne Altlasten. In seinem ersten Jahr als Finanzminister baute Milbradt einen "theoretischen Haushalt" und stieg bei den Ausgaben niedrig ein. Das wirkt bis heute: Sachsen ist mit Bayern "Vorbild in Sachen Schuldendisziplin" (Sinn).
18 Jahre lang war Milbradt im sächsischen Kabinett, länger als jeder andere Politiker. Dabei hatte er nicht zuletzt die Städte und Gemeinden im Blick. "Als Minister bist Du wie der Fahrer eines Busses, der die Menschen sicher ans Ziel bringen soll. Aber der beste Fahrer versagt, wenn das Lenkrad nicht mit den Rädern verbunden ist. Die Räder sind die Landkreise und die Kommunen."
Den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit nennt Milbradt einen Freudentag. "Mit Ihrer Solidarität, Ihrem Interesse und nicht zuletzt ihren Steuergeldern haben Sie dazu beigetragen, dass wir ihn feiern können", sagte er zu den Besuchern im Kurhaus.
Freilich sind 30 Jahre Einheit nicht nur Grund zur Freude. Darauf weist Sinn hin. Anders als sein Freund Milbradt ist der frühere Präsident des ifo Instituts nie in die Politik gegangen. Er blickt mit den Augen eines kritischen Volkswirtes auf die Entscheidungen kurz nach der Wende. Und da sind aus seiner Sicht Fehler gemacht worden. Viel zu schnell wurden Löhne und Sozialleistungen im Osten an die im Westen angeglichen, argumentiert der 72-Jährige. Die Produktivität habe nicht Schritt gehalten. Das Ansinnen sei zwar moralisch berechtigt gewesen. "Leider ist die Marktwirtschaft nicht moralisch. Es hat halt nicht funktioniert", sagt Sinn mit Blick auf die produzierende Industrie. Dort sind 80 Prozent der Arbeitsplätze weggefallen. Es hätte einen anderen Weg gegeben, ist der Ökonom überzeugt. Viele Konzerne auch aus Asien wären bei einem niedrigeren Lohnniveau bereit gewesen, in der früheren DDR zu investieren. Dazu kam es nicht, weil "westdeutsche Gewerkschaften und Arbeitgeber die Verhandlungen für Ostdeutschland führten".
Das hat Folgen: Bis heute hängt der Osten am Tropf des Westens. 60 Milliarden fließen im Jahr als Transfer in die neuen Länder. Sinn: "Wir machen es gern. Es sind unsere Brüder und Schwestern. Wir können es aber nicht beliebig weitertreiben."
Als Volkswirt gibt Milbradt seinem Freund Recht. Als Politiker widerspricht er ihm. "Wenn der politische Druck da ist, kann ich nur versuchen, das Beste daraus zu machen", sagt er. Wenn die Löhne steigen, müsse die Politik Branchen ansiedeln, die eine höhere Produktivität haben. In Sachsen ist das mit der Automobilindustrie und Chipherstellern teilweise gelungen. "Silicon Saxony" gilt als wichtigster Standort für die Halbleiterindustrie in Europa. Und auch in anderen Bereichen habe der Osten, zumindest Sachsen, den Westen "ein- oder sogar überholt", wie Milbradt sagt. Der 75-Jährige nennt Bildung und einige Technologiefelder. So steckt hinter dem neuen 5-G-Mobilfunkstandard Forschung der Technischen Universität Dresden.
Anders als viele andere Aufbauhelfer ist Milbradt im Übrigen nicht in den Westen zurückgegangen. 1994 hat er sein Haus in Münster verkauft und ist mit seiner Familie nach Dresden gezogen. Dort wohnt er noch heute. "Ich will nicht zurück. Die alte Heimat vermisse ich nicht."