Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Süddeutsche Zeitung, 28.06.2012, Nr. 147, S. 24
Gehen Länder pleite und treten aus dem Euro aus, verliert Deutschland mehr als 700 Milliarden Euro
Von Hans-Werner Sinn - Der ESM wird als Friedensprojekt verkauft, doch in Wahrheit wird er Unfrieden stiften. Die fünf Krisenländer Italien, Spanien, Griechenland, Portugal und Irland sitzen auf unglaublichen zwölf Billionen Euro an Staats- und Bankschulden, bald dem Fünffachen der deutschen Wirtschaftsleistung eines Jahres. Das Gegenstück dieser Schulden sind Wertpapiere und Forderungstitel bei den Anlegern der jeweiligen Länder und in den Anlageportfolios der Investoren der Wall Street, der City of London, der Pariser Banken, aber auch der deutschen Finanzinstitute.
Die Anleger haben Angst, ihr Geld nicht wiederzusehen, weil die Schuldner über ihre Verhältnisse gelebt haben und nicht zurückzahlen können. Sie suchen nun einen Dummen, dem sie ihren Anlageschrott verkaufen können. Der Dumme sind wir, denn wir sollen ja nun als Rentner und Steuerzahler für die Bad Bank mit dem Namen ESM einstehen, die in Luxemburg entstehen soll. Wir hatten das ja schon mit den eigenen Bad Banks ähnlich gemacht, die die Bundesregierung 2010 mit einem Volumen von 240 Milliarden Euro gegründet hatte, um deutschen Banken ihre toxischen Anlagen abzukaufen. Wir und unsere Kinder werden nun zu Gläubigern überschuldeter Staaten. Anstelle der ehemaligen Anleger sind wir es nun, die nach Griechenland, Italien, Spanien und Portugal ziehen müssen, um das geliehene Geld zurückzufordern. Das wird alles andere als ein friedlicher Prozess werden, und es wird auch nicht gelingen.
Bereits der Euro war als Friedensprojekt begründet worden und erwies sich, weil einige ihn als goldene Kreditkarte begriffen, als Unruhestifter. Nie zuvor in der Nachkriegszeit hat Deutschland so viel Aggression in der Presse anderer Länder auf sich gezogen wie heute. Nun auch noch die Platin-Karte auszuhändigen, damit im Moment einmal Ruhe ist, wird das Problem nicht lösen, sondern verschlimmern. Deutschland hat im Gegensatz zu einer zweckdienlichen Behauptung, die gerne kolportiert wird, unter dem Euro bislang ziemlich gelitten. Wir fielen in der Zeit von der Ankündigung des Euro beim Gipfel in Madrid im Jahr 1995 bis zum Beginn der Finanzkrise (2007) beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf vom dritten auf den elften Platz der heutigen Euro-Länder zurück. Inzwischen haben wir uns, weil das deutsche Sparkapital auch wieder zu Hause investiert wird, auf den neunten Platz vorgerobbt. Deutschland trug beim Wachstum lange Zeit die rote Laterne, es hatte die kleinste Investitionsquote und eine Massenarbeitslosigkeit, die die Regierung Gerhard Schröders zu schmerzlichen Sozialreformen zwang. Es gibt keine Veranlassung, nach unserer eigenen Euro-Krise nun noch für die anderer zu bezahlen, zumal wir das nicht schaffen würden. Die Krisenländer haben schon viele Hunderte Milliarden Euro an öffentlichen Hilfen erhalten, davon über 1.000 Milliarden von der EZB allein, und doch reicht das Geld hinten und vorne nicht. Deshalb sollen nun mit dem ESM weitere 500 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Wenn man alle Hilfen zusammennimmt, liegt das Rettungsvolumen dann bei 2,1 Billionen Euro. Gehen die Krisenländer pleite und treten aus dem Euro aus, verliert Deutschland mehr als 700 Milliarden Euro, den Gegenwert von 240 Transrapidstrecken. Und wenn sie drin bleiben, weil wir sie finanzieren, dann werden die Verluste eher größer, weil immer neue Schulden hinzukommen.
Wir können und sollten den Euro bewahren, aber nicht, indem wir für die Fehlinvestitionen der Vermögensbesitzer einstehen. Es gibt nur eine Personengruppe, die die absehbaren riesigen Verluste auf die zwölf Billionen Euro Bank- und Staatskredite tragen können: die Vermögensbesitzer selbst. Die Hilfsgelder retten ja auch nicht wirklich, sie kurieren nur die Symptome. Das Problem des Euro-Raums liegt darin, dass die südlichen Länder durch den billigen Kredit, den der Euro brachte, zu teuer geworden sind und ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. So ist Griechenland heute um etwa 60 Prozent teurer als die Türkei.
Was immer an Reformen und Produktivitätsverbesserungen angedacht wird: Diese Maßnahmen wirken nur dann und in dem Maße, wie sie die Länder relativ zu ihren Wettbewerbern billiger machen. Will man keine Inflation in den Kernländern des Euro-Raums in Gang setzen, gibt es dazu nur zwei Wege: Die Länder treten aus und werten ihre neuen Währungen ab, oder sie bleiben im Euro und akzeptieren ein langes Siechtum, um ihre Preise zu drücken. So oder so stehen schmerzliche Entscheidungen an. Der ESM zögert sie nur hinaus und vergrößert die Schulden der betroffenen Länder und unsere Verluste immer mehr.
Es ist an der Zeit, über eine Verdichtung des Euro-Raums auf einen funktionsfähigen Kern nachzudenken. Statt den Austritt mit dem Weltuntergang gleichzusetzen, sollte die Politik lieber nach Wegen suchen, ihn geordnet und verträglich zu gestalten. Ein temporärer Austritt zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit, quasi eine Art Reha-Klinik für kranke Staaten, wäre dem Frieden in Europa zuträglicher als die Verschleuderung des deutschen Volksvermögens, die man nun schon fast ultimativ von uns verlangt.
Hans-Werner Sinn, 64, ist Chef des ifo Wirtschaftsforschungsinstituts und Ökonomie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.