Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 2020, S. 29.
Herr Sinn, droht eine Inflation?
Langfristig bestehen erhebliche Gefahren. Das lässt sich an der enormen Ausweitung der Zentralbank-Geldmenge seit der Lehman-Krise von 900 Milliarden auf 6000 Milliarden Euro bis zum Sommer nächsten Jahres erkennen. Die EZB hat immer mehr Zettel verteilt, die Ansprüche auf ein Sozialprodukt beinhalteten, das gar nicht erzeugt wurde. Das neu gedruckte Geld wurde benutzt, um die Einkommen der Wirtschaft, der Staatsbediensteten und der Empfänger von Sozialtransfers trotz der Wirtschaftsflaute zu stützen. Auch das Kurzarbeitergeld, das während der Corona-Krise gezahlt wird, kommt letztlich aus der Druckerpresse. Das ist alles andere als eine solide Geldpolitik, die dem Geist des Maastrichter Vertrages verpflichtet ist. Allerdings gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen Geldmenge und Teuerung mehr, weil wir uns in einer keynesianischen Liquiditätsfalle befinden.
Was bedeutet das?
Das Geld wird von den Einkommensbeziehern und vor allem den Banken gehortet, und es ist unklar, wie lange es in diesen Horten bleibt. Deshalb war und ist die Geldpolitik unwirksam. Es lässt sich derzeit nicht prognostizieren, wann eine Inflation beginnen wird. Doch sollte sie irgendwann in Gang kommen, lässt sie sich nicht mehr geldpolitisch bremsen. Die EZB wird sich scheuen, ihre erworbenen Staatsanleihen in diesem Fall zu verkaufen. Denn dann steigen die Zinskosten für die Staaten, und den Banken, die ähnliche Papiere halten, drohen hohe Kursverluste. Die Situation ist vergleichbar mit einem Kutscher, der die Zügel schleifen lässt, weil die Pferde ermüdet sind, und sich nicht mehr traut, sie aufzuheben, wenn die Pferde sich erholt haben und zu galoppieren beginnen, weil er fürchtet, dann vom Kutschbock zu fallen.
Sind die gemeinsamen EU-Anleihen der Einstieg in die Fiskalunion?
Ja, es handelt sich hier um gemeinsame Verschuldungsmöglichkeiten, wie sie Präsident Macron immer wieder gefordert hat, denen aber Deutschland zuvor skeptisch gegenüberstand. Für diese Anleihen gibt es weder im Maastricht- noch im Lissabon-Vertrag eine Basis. Mehr noch, sie sind in den EU-Verträgen explizit ausgeschlossen und müssen deshalb einstimmig beschlossen werden. Zwar sind diese Anleihen fiktiv mit einer teilschuldnerischen Haftung der Länder versehen, aber faktisch läuft alles auf eine gesamtschuldnerische Haftung hinaus. Beim Ausfall eines Landes werden die anderen Länder gegenüber den Gläubigern für die Kredite geradestehen.
Die gemeinsamen EU-Anleihen haben am Devisenmarkt den Euro unterstützt. Die Vertiefung der Währungsunion scheint das Vertrauen der Investoren zu stärken.
Die gemeinsame Haftung hat den Euro-Kurs gestützt und damit die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Eurozone unmittelbar geschwächt. Aber das ist sekundär. Wichtiger ist, dass die gemeinsame Haftung das Vertrauen der Investoren stärkt, weil sie ihr Risiko mindert. Doch die Beruhigung der Kapitalmärkte ist kein generell sinnvolles Ziel der Wirtschaftspolitik. Ganz im Gegenteil. Nur wenn die Investoren Angst haben, ihr Vermögen zu verlieren, verlangen sie zum Ausgleich für die Länderrisiken normalerweise höhere Zinsaufschläge von den überschuldeten Staaten. Und weil das so ist, sinkt die Neigung dieser Staaten, sich noch weiter zu verschulden. Ohne diesen fundamentalen Wirkungsmechanismus des Kapitalmarktes kann ein föderales System, dem die machtvolle politische Zentrale fehlt, nicht funktionieren. Die gemeinsame Verschuldungsmöglichkeit durch die EU schafft eine künstliche Investitionssicherheit, die die Lenkungsfunktion des Kapitalmarktes untergräbt. Eine gemeinsame Haftung führt ohne eine politische Union stets zu einer Schuldenlawine. Der europäische Versuch, das durch politische Schuldenbremsen auf der Ebene der Einzelstaaten zu verhindern, ist kläglich gescheitert. Die Möglichkeit der Verschuldung auf der Ebene der EU wird alles noch weiter verschlimmern.
Das Interview führte Markus Frühauf.
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