Es besteht ein Inflationsrisiko

Der frühere ifo-Präsident Sinn warnt vor den Spätfolgen der exzessiven staatlichen Ausgabe-Politik, zeigt sich aber erst einmal optimistisch für Deutschland.
Hans-Werner Sinn

Augsburger Allgemeine Zeitung, 25. November 2020.

Hans-Werner Sinn gilt nach wie vor als der bekannteste deutsche Ökonom. Der langjährige Präsident des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung ist 72 Jahre alt und analysiert wie eh und je die ökonomische Lage der Nation und der Welt – und das unverändert mit dem charakteristischen Backenbart.

Mitte März haben Sie gesagt: „Wir befinden uns im Krieg gegen Corona.“ Gewinnen wir den Krieg?

Der Krieg gegen Corona ist noch nicht zu Ende, aber wir gewinnen ihn. Schließlich werden extrem wirksame Impfstoffe in Kürze zugelassen. Und heimische Forscher sind hier an vorderster Front erfolgreich tätig, ob in Mainz oder Tübingen. Dabei sind das Biontech-Gründer-Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci, beides deutsche Kinder türkischer Immigranten. Sahin und Türeci sind wunderbare Beispiele für eine geglückte Integration von Einwanderern, ja mehr noch für die neue Dynamik, die aus dem Zustrom von Ausländern resultieren kann. Sicherlich ist Immigration häufig problematisch, weil der deutsche Sozialstaat insbesondere auf gering qualifizierte Menschen im Ausland wie ein Magnet wirkt. Der Fall von Ugur Sahin zeigt jedoch, dass die Einwanderung eine enorme Innovationskraft entfalten kann.

Viele Menschen sind derzeit stark verunsichert, wie es wirtschaftlich weitergeht. Haben Sie eine beruhigende Medizin für diese Bürger?

Wir kommen mit einem blauen Auge aus der Krise raus. Wir erleben einen Aufschwung wie ein umgekehrtes Wurzelzeichen: Es ging steil runter, dann schnell wieder hoch, aber nicht auf das alte Niveau. Wir kämpfen uns also in einer Seitwärtsbewegung wieder nach oben.

Im nächsten Jahr ist also nach dem Lockdown light BIP light, also immerhin leichtes Wachstum angesagt?

Sogar ein kräftiges Wachstum, weil es dieses Jahr so weit runterging. Der Winter wird noch schwierig. Aber die Politik beschreitet heute einen guten Weg, den wir auch schon im Frühjahr hätten einschlagen sollen. Die Schulen und die Firmen bleiben auf, nur die Vergnügungsstätten schließen. Die Eltern können zur Arbeit, weil die Kinder betreut sind. Und weil Partys nicht steigen können, während man seine Freiheit am Arbeitsplatz findet, haben viele Leute wieder Lust, aus der Kurzarbeit auszusteigen.

Nach Ihrer Prognose scheint Licht am Ende des Corona-Tunnels auf.

Dieses Licht ist sehr nah. In den USA und in Großbritannien wird man wohl Anfang Dezember mit den Impfungen beginnen, und zwar mit dem Impfstoff von Biontech aus Mainz. Ich hoffe, dass Deutschland, das ja Biontech sehr viel Fördergeld gegeben hat, dafür auch frühzeitig bei der Verteilung des Impfstoffes berücksichtigt wird. Oder müssen wir warten, bis die Amerikaner und Briten geimpft sind? Das wäre nicht vermittelbar.

Worauf gründen Ihre Befürchtungen?

Ich frage mich, ob für unsere Bürger genug Impfstoff von Biontech eingekauft wurde. Die Amerikaner haben sich den Impfstoff schon frühzeitig gesichert, und wir scheinen das Recht zur Verteilung des deutschen Impfstoffs an die EU übergeben zu haben. Würde Deutschland zeitgleich mit EU-Ländern an die Reihe kommen, die der Herdenimmunität bereits sehr viel näher sind als wir und die sich an der Forschungsförderung nicht beteiligt haben, hätte ich ein erhebliches Störgefühl.

Wann erreicht Deutschland wieder das wirtschaftliche Niveau der Vor-Corona-Zeit? Hier gehen die Prognosen ja auseinander. Optimisten rechnen schon mit 2022. Pessimisten erst mit 2023 oder gar 2024.

Ich glaube, dass Deutschland Ende 2022 schon wieder so stark sein wird wie vor Corona. Aber das hängt alles davon ab, ob die Impfungen noch vor Weihnachten beginnen oder erst im April, wie einige mutmaßen. So oder so wird die dritte Corona-Welle im Herbst wohl ausbleiben, sodass die Wirtschaft dann schon wieder durchstarten kann, zumal das China-Geschäft bereits jetzt wieder boomt.

Hat die deutsche Politik einen guten Corona-Job gemacht?

Ja, der Politik gebührt ein großes Lob bei den regulatorischen Maßnahmen. Das gilt insbesondere für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und für den bayerischen Ministerpräsidenten. Die Politik hat aus anfänglichen Fehlern im Frühjahr gelernt und letztlich eine vernünftige Corona-Strategie entwickelt. Auch deshalb sind unsere Infektionszahlen deutlich niedriger als in Nachbarländern.

Doch welche Folgen hat die massive Ausweitung staatlicher Ausgaben für Deutschland?

Im Zuge der Corona-Krise hat eine wundersame Geldvermehrung stattgefunden. Letztlich kommt das Kurzarbeitergeld aus der Druckerpresse. Das fühlt sich schön an, funktioniert aber auf Dauer nicht. Geld muss man verdienen, indem man eine Leistung erzeugt, die andere bezahlen. Doch in Corona-Zeiten ist die Geldmenge, also das im Umlauf befindliche Geld, dramatisch vergrößert worden, weil die Notenbanken des Eurosystems viel neues Geld geschaffen und in Umlauf gebracht haben, unter anderem durch den Aufkauf von Staatspapieren und damit durch die Finanzierung der Staaten.

Welche Folgen hat das?

Wir werden Mitte 2021, wenn die Pandemie hoffentlich endgültig abgeebbt ist, in der Eurozone sechs Mal so viel Zentralbankgeld im Umlauf haben wie kurz vor dem Beginn der Eurokrise im Sommer 2008. Die Eurokrise geht nahtlos in die Corona-Krise über.

Die von Ihnen beschriebene wundersame Geldvermehrung wird sich sicher irgendwann ein Ventil suchen. Heißt das Ventil Inflation?

Es entsteht definitiv ein Inflationsrisiko, was nicht heißt, dass aus dem Risiko Gewissheit wird.

Wann kommt die Inflation zurück? Zuletzt haben wir ja in der Eurozone drei Monate in Folge leicht negative Teuerungsraten verzeichnet.

Es ist schwer zu sagen, wann die Inflation zurückkommt. Wir leben schon gut ein Jahrzehnt mit der Politik der Europäischen Zentralbank, die zu Null- und Negativzinsen geführt hat. Die Menschen legen ihr Geld unter die Matratze oder in den Safe. Auch Banken lassen das Geld ruhen, anstatt es zirkulieren zu lassen. Wenn die Corona-Krise vorbei ist, die Wirtschaft wieder anzieht und sich neue Hoffnung breitmacht, kann sich das aber ändern.

Kommt dann die Inflation zurück?

Dann können die Preise wieder steigen. Das wird die Europäische Zentralbank zunächst begrüßen. Sie könnte dann aber in Schwierigkeiten geraten, wenn die Inflation über zwei Prozent klettert, denn sie hat die Zügel der Geldpolitik derart gelockert, dass sie sie schwer wieder anziehen kann, wenn es nötig ist.

Welche Optionen hat die EZB dann noch, wenn die Inflation mit Werten über zwei Prozent wieder zurück ist?

Dann wird die EZB nicht den Rückwärtsgang einlegen, sondern die Inflation stattdessen kleinreden. Der Rückwärtsgang hieße, dass sie für über 3000 Milliarden Staatspapiere wieder verkaufen muss, was die Staaten und Banken Südeuropas in arge Schwierigkeiten brächte. Wohin die Reise geht, sieht man schon an den Äußerungen des italienischen Präsidenten des Europa-parlaments, David Sassoli, der letzte Woche vorschlug, die von den Notenbanken gekauften Staatspapiere einfach zu streichen.

Wie beurteilen Sie das?

Das ist eine so dreiste Verletzung des Maastrichter Vertrages, dass man sich fragt, ob dieser Mann der richtige an seinem Platz ist.

Brauchen wir, wie es die SPD ins Spiel gebracht hat, einen Corona-Soli, der den Krankenkassen zufließt?

Finanzminister Olaf Scholz sollte lieber erst einmal sein Konjunkturprogramm zurücknehmen.

Also seinen berühmten „Wumms“?

Ja, weil zu viel Schulden gemacht wurden und die Schulden letztlich bei der Bundesbank aufgenommen wurden. Ich halte es für falsch, während der Corona-Krise Konjunktur-Pakete zu schnüren. Das ist ein Widerspruch in sich.

Warum denn? Die Konjunktur in der Krise zu stimulieren, ist doch sinnvoll.

Nein, die Menschen werden in der Krise von der Politik angehaltem, vorsichtig zu sein und weniger in die Läden zu gehen, um sich nicht anzustecken. Das beherzigen viele Menschen freiwillig. Da ist es doch widersprüchlich, ihnen mehr Geld an die Hand zu geben, sodass sie dann doch in die Läden gehen.

Doch man kann auch ohne Risiko einkaufen, eben online. Da hilft doch das Geld der Politik, der Scholz-Wumms?

Das ist zwar richtig, doch hätten sich Amazon & Co auch ohne diesen Wumms eine goldene Nase verdient. Die im Versandhandel bereits durch die Epidemie selbst angeheizte Konjunktur noch weiter anzuheizen, macht überhaupt keinen Sinn.

Nachzulesen auf www.augsburger-allgemeine.de.