Der Extremismus in der europäischen Energiepolitik

Deutschland, die Schweiz wie auch die EU wollen bis 2050 oder 2045 die Treibhausgasemissionen auf netto null zurückfahren. Diese Ziele beruhen auf utopischen Vorstellungen.
Hans-Werner Sinn

Weltwoche Grün, 19. Oktober 2023, Nr. 42, S. 6-9.

Klimapolitik, Energiewende, Auto industrie, Inflation, Euro, Staats schulden – der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hat in zahlreichen Fachartikeln, Büchern und Videos pointierte Einschätzungen zu diesen Themen dargelegt. Sinn zählt zu den bekanntesten Wirtschaftswissenschaftlern Europas. Er war Leiter des ifo Instituts sowie Professor an der Universität München. Seit seiner Emeritierung 2016 ist er ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Sein jüngstes Buch «Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation» (2021) bietet reichhaltige Erklärungen der krisenhaften Entwicklungen in Europa.

Für Energie- und Klimafragen von besonderer Bedeutung ist sein Buch «Das grüne Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik», das 2008 erstmals sowie 2012 und 2020 überarbeitet erschien. Seine Argumente gegen verbreitete Irrtümer in der Klimadebatte bleiben höchst brisant. Kürzlich, am 6. September, hielt Sinn am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern einen Vortrag zum Thema «Der Extremismus in der Energiepolitik am Beispiel Deutschlands und der EU» (auch ein wenig der Schweiz), dessen erster Teil hier nun im Wortlaut abgedruckt ist:

«Ich will hier über den Extremismus der deutschen und europäische n Energiepolitik reden. Ich bin kein Klimaleugner, im Gegenteil, das wurde schon gesagt. Ich bin auch bereit, das grüne Glaubensbekenntnis abzulegen. Aber das tue ich trotzdem jetzt nicht, sondern ich versuche, nüchtern als Volkswirt verantwortungsethisch vorzugehen. Max Weber, ein Münchner Kollege aus meiner Fakultät oder dem Vorläufer meiner Fakultät, hat diese Unterscheidung gemacht zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik heisst, man folgt unmittelbar einem moralischen Impetus und tut das, was das Gewissen gebietet. Und Verantwortungsethik heisst: Nein, nein, also zwischen dem Ziel, das man erreichen will, und dem Handeln liegt eine lange komplexe Wirkungskette. Und die gilt es zu verstehen.

Der einfache Teil ist erledigt

Erst wenn man die verstanden hat, kann man sich richtig entscheiden. Häufig kommen Entscheidungen zustande, die gesinnungsethisch vielleicht gar nicht auf der Hand liegen, aber dann im Endeffekt funktionieren. Und es muss ja funktionieren. Das Klimathema ist doch zu wichtig, als dass wir da irgendwie herumspielen können und irgendwas machen, was tatsächlich nur unser Gewissen befriedigt, ohne einen Effekt zu haben. Und darum geht es.

Mein Vortrag ist gespickt mit Fakten: Fakten, Fakten, Fakten, wenig Meinung. Ich mag diese Meinungen nicht. Die Presse berichtet permanent über Meinungen. Wir brauchen harte Fakten, auf die wir uns verlassen können. Zu den Fakten gehört es sich klarzumachen, dass das, was wir uns vorgenommen haben, doch ziemlich utopischen Charakter hat, weil es einfach viel zu ambitioniert ist. Ich zeige Ihnen diese Grafik hier (siehe Seite 8): Dargestellt sind die Ziele der EU und einzelner Länder, auch die Ziele der Schweiz, zur Entwicklung der CO2-Emissionen seit 1990. 1990 ist immer das Basisjahr in all den Klimaverträgen von Kyoto, Paris und so weiter.

Wie weit haben wir es geschafft, seitdem den CO2-Ausstoss zu reduzieren? Und wo wollen wir eigentlich hin? Links im Bild ist 1990, das ist gleich 100 Prozent gesetzt, und rechts im Bild 2050, und bis dahin wollen die EU, Deutschland und die Schweiz – die Schweiz verhält sich ja doch ziemlich EU-konform – in all diesen Emissionen auf null kommen.

Es gibt Zwischenziele, die im Kyoto-Abkommen festgelegt wurden. Die EU sollte schon bis 2020 um 20 Prozent zurückgegangen sein, und Deutschland hatte sich verpflichtet, um 40 Prozent runterzugehen. Das sind also bereits rechtliche Verpflichtungen, die man sich da vorgenommen und vereinbart hat. Die EU hat es geschafft, ist sogar noch etwas stärker runtergegangen, wie Sie in der Grafik sehen.

Grafik 1

Und Deutschland hat seine 40 Prozent auch geschafft. Na ja, Corona hat zum Schluss noch ein bisschen mitgeholfen, aber das sieht schon gar nicht schlecht aus. Die Schweiz hat 20 Prozent Rückgang geschafft seitdem. Es soll aber jetzt weitergehen. Bis 2030 will die EU um 55 Prozent zurückgegangen sein, Deutschland gar um 65 Prozent und die Schweiz um 50 Prozent. 2030 ist ja übermorgen, das ist nicht mehr lang hin.

Und die EU will um 100 Prozent reduzieren gegenüber 1990, also auf null letztlich, bis 2050. Deutschland will das gleiche Ziel schon 2045 erreicht haben. Und die Schweiz will wie die EU auch um 100 Prozent nach unten gelangen. Ich würde sagen: Das ist schon sehr ambitioniert. Bedenken Sie, dass Deutschland in dreissig Jahren 40 Prozent Reduktion geschafft hat und für die restlichen 60 Prozent jetzt gerade mal noch 25 Jahre übrig sind.

Das ist insofern problematisch, als – seien wir ehrlich – hinter dem jetzigen Rückgang bei Deutschland und bei der EU natürlich auch der Untergang der schmutzigen ehemaligen kommunistischen Industrien liegt, in Ostdeutschland, in Polen, Tschechien und so weiter. Die EU-Zahlen sind mit dem heutigen Mitgliederkreis berechnet, rückwirkend auch auf die Zeit, als einige Länder noch nicht Mitglieder waren. Deutschlands Industrie im Osten ist total untergegangen und ersetzt worden durch etwas, was heute viel sauberer ist, als es die kommunistischen Wirtschaftssysteme jemals haben sein können. Das ist eine wesentliche Erklärung der CO2-Reduktion.

Es gibt immer noch ein Morgen

Aber können wir das so weitermachen? Nein. Die sogenannten low-hanging fruits sind alle gepflückt. Jetzt wird es immer schwieriger, die Ziele in der restlichen Zeit zu erreichen. Ich glaube, da muss man gar nicht weiter rechnen, das ist utopisch. Es geht ja gar nicht, es geht auch nicht ansatzweise. Das werden wir nicht hinkriegen. Und es ist eigentlich jedem, der die Grafik sieht, heute schon vollkommen klar. Die Frage ist, wie die Verantwortlichen rauskommen aus der Kurve. Das ist eigentlich die einzige Frage, wenn sie sich solch ambitionierte und unrealistische Ziele setzen.

Es gibt auch noch grundsätzliche Probleme. Ich will das hier nur antippen, aber ich habe dazu auch wissenschaftlich gearbeitet. Das Thema Kohlenstoffbudget und Temperaturlimit, all diese Werte – das sind politische Zahlen. Es ist nicht so, dass aus der Wissenschaft, vom Weltklimarat IPCC, irgendwelche Analysen vorgelegt wurden, aus denen folgt, dass bei 1,5 Grad Erwärmung Schluss sei, weil alles, was darüber hinausgehe, die Welt zerstöre, oder dass dann unhaltbare, sich selbst verstärkende Prozesse beginnen würden.

Das ist alles nicht der Fall. Mehr CO2 in der Luft bedeutet mehr Temperatur, aber schafft dann eben ein höheres Gleichgewicht, das zu diesem höheren CO2-Gehalt gehört. Es ist nicht so, dass es sogenannte runaway-Prozesse gibt, in denen die Erde verpufft. Dazu war die Erde unterwegs in ihrer Existenz schon viel zu heiss
und hatte immer ihre Gleichgewichte. Keine schönen Gleichgewichte. Das ist Grund genug, etwas dagegen zu tun, aber man muss sich klarmachen: Es gibt kein Kohlenstoffbudget, und es gibt auch kein Temperaturlimit – ausser dem, was politisch gesetzt wurde, aber nicht von der Naturwissenschaft her.

Und es ist auch unökonomisch, so harte Limits zu setzen. Es gibt ja immer noch ein Morgen. Man muss die Emissionen allmählich herunterfahren, meinetwegen auch gegen null, im Laufe der Zeit. Das sind aber Prozesse, die erstrecken sich nicht nur über Jahrzehnte, sondern über Jahrhunderte. Und wir müssen natürlich nach Ersatztechnologien suchen, die uns den Weg ermöglichen. Darüber werde ich später noch kurz reden, obwohl mein Vortrag nicht in erster Linie der Technik gilt. Über die Technik hören wir genug, davon sind die Zeitungen voll.

Was hätte Ludwig Erhard gesagt?

Über die ökonomischen Zusammenhänge hören wir nicht so viel. Also: Wie wollen wir die Ziele erreichen? Nun, in Deutschland sagt die grüne Regierung: über Ordnungspolitik. Und Ordnungspolitik heisst für sie Gebote und Verbote. Ludwig Erhard hätte sich im Grab umgedreht, wenn er das jetzt gehört hätte. Denn Ordnungspolitik ist ja nun gerade das nicht, sondern setzt, wenn schon, pretiale Anreize, finanzielle, marktwirtschaftliche Anreize.

Zu den Verboten gehört übrigens die Abschaltung der AKW, der Kraftwerke in Deutschland schon 2023. Man hätte es nicht geglaubt, aber tatsächlich haben die Deutschen alle Kraftwerke abgeschaltet. Wir hatten siebzehn. Das hat mit dem Thema Klima nichts zu tun, vergrössert aber das Problem.

Dazu kommt ein Ölheizungsverbot. Bereits ab dem nächsten Jahr war das von der Regierung geplant, der Protest war aber so gross, dass man es jetzt ein bisschen abgeschwächt hat. Es gibt noch ein paar zusätzliche Jahre, weil die Gemeinden erst entsprechende Planungen vorlegen müssen, aber im Prinzip gilt es ab 2024
für alle Ölheizungen, die die gesetzlich festgelegte Lebensdauer von dreissig Jahren überschritten haben und erneuert werden müssen
.

Dann gibt es das Verbrenner-Aus, das Verbot der Verbrennungsmotoren, das ja faktisch schon durch die EU-CO2-Verordnungen der Vergangenheit vorbereitet wurde. Svenja Schulze, die deutsche zuständige Ministerin war 2018 bei der EU mit diesen Dingen beschäftigt. Und dann gibt es den Kohleausstieg in der Zeit von 2030 bis 2038; und schliesslich den Erdgasausstieg, eben bis 2045. Da hat Putin ja neuerdings mitgeholfen, das vielleicht ein bisschen zu beschleunigen.

Die Rolle der Kanzlerin

Aber hinter all diesen Dingen steht ein Name, das ist die frühere Kanzlerin. Die Kanzlerin hat das betrieben, was sie von den Soziologen und Publikationswissenschaftlern gelernt hatte: nämlich eine asymmetrische Demobilisierung. Das ist ihre Sprache. Was ist gemeint? Der politische Gegner, in diesem Fall die Grünen, hat irgendetwas vor – und bevor man gestellt wird im Wahlkampf zu diesem Thema, macht man es lieber selber. Dann hat sie also im Vorgriff auf das, was die Grünen dann mal vorbringen könnten, all diese Dinge in ihrer Regierungszeit ermöglicht.

Das, glaube ich, ist nicht der richtige Weg in einer Marktwirtschaft, grundsätzlich nicht. Denn wenn man aus etwas aussteigen will, dann macht man das durch pretiale Anreize, durch Preissysteme, durchaus auch über CO2- Preise, oder durch einen Emissionshandel, wie wir ihn ja haben. Damit kann man das viel feinfühliger steuern.

Aber solch dirigistische Verbote wie die jetzigen gehören nicht in die Marktwirtschaft. Schauen wir uns mal an, wie der Energiemix aussieht. Nehmen wir den Primärenergieverbrauch gemäss offiziellen Zahlen. Für die EU zeigt die Grafik (S.9), dass wir ein gutes Drittel Mineralöl haben, sodann 24 Prozent Gas, dann oben dieser gelbe Zwackel, zeigt noch 11 Prozent Kernenergie. Links daneben kommt die Kohle mit 10 Prozent, das ist Braunkohle und Steinkohle. Und dann gibt es erneuerbare Energien, doch immerhin mit 19 Prozent, wobei Wind und Solar 9 Prozent ausmachen.

Grafik 2

Zum Vergleich: Ihr Land, die Schweiz, hat ähnlich viel Mineralöl, aber weniger Gas, und einen erstaunlich grossen Sockel an erneuerbarer Energie mit 27 Prozent. Und dann Kernenergie, auch mit 27 Prozent. Das ist eigentlich schon eine sehr günstige Struktur, von der andere Länder, Deutschland insbesondere, nur träumen können. Blickt man nämlich auf den Energiemix in Deutschland, sehen Sie, dass wiederum Mineralöl bei 35 Prozent liegt und dass das Gas sehr bedeutsam ist. Das sind die Zahlen vor der Gasabschaltung 2020.

Aktuellere Zahlen für alle Länder liegen noch nicht vor, aber ich nenne Ihnen gleich noch eine Zahl, die neuer ist. Ich habe die Grafik für Deutschland, die unterste, so aufgebaut, dass man sieht, was hier alles wegfallen soll. Die Kernenergie ist da noch eingezeichnet, daneben die Steinkohle. Von oben links hinübergehend kommt dann die Braunkohle, sodann die erneuerbaren Energien, die 2020 bei 16,5 Prozent lagen, und Gas war bei 26,5 Prozent.

Die Idee ist jetzt, in Deutschland diesen hellgrünen Zwackel, der Wind- und Solarenergie darstellt, ganz gewaltig auszudehnen. Darauf liegt die gesamte Hoffnung Deutschlands. Deswegen sollen 2 Prozent der Fläche der Bundesrepublik Deutschland für solche Solaranlagen und Windanlagen verwendet werden. Das hört sich nicht nach viel an, aber 2 Prozent der Fläche ist so viel wie sämtliche Verkehrsflächen in den Städten und ausserhalb in Deutschland, alle Autobahnen und so weiter zusammen. Oder auch sämtliche Gewerbeflächen der Bundesrepublik Deutschland. So viel soll also noch einmal der Natur abgetrotzt werden für die neue Industrialisierung zu grünen Zwecken.

Also, was soll hier in dieser Grafik alles passieren? Erst einmal: keine Kernkraft mehr. Das war beschlossen und ist realisiert, in diesem Jahr haben wir sie nicht mehr. Dann sollen Ölheizungen verboten werden. Das trifft den
Mineralölteil hier. Dann soll es kein Mineralöl für PKW mehr geben ab 2035, weil dann ja das Verbrennerverbot gilt. Sodann soll die Kohle entfallen bis 2038, Braunkohle sowie Steinkohle.

Also, wenn man sich das überlegt: Dieser hellgrüne Wind- und Solar-Zwackel, der muss jetzt da schon ganz schön was leisten, wenn er das wettmachen soll.

Nun sagen einige: Ich habe ja die Wärmepumpen, da muss ich das alles nicht so toll machen. Das ist aber auch nicht ganz richtig, denn Wind und Solar, diese Energie ist nur im Sommer richtig da, und häufig müssen wir Energie in den Winter transportieren. Wenn wir das tun wollen, müssen wir in die Wasserstoffschleife gehen, Wasserstoff als Speicher. Damit wären drei Viertel der Energie wegen des Wirkungsgrads dann aber weg. Was man einsparen könnte an Primärenergie, wenn man jetzt Wind- und Solarenergie an die Stelle dieser traditionellen Energieträger setzt, ist ein Rechenexempel. Es hängt davon ab, wie sich der Verbrauch wirklich entwickelt.

Die Utopie wird deutlich

Nun weiter im Plan: Mineralöl und Gas sollen bis 2045 wegfallen. Das überlasse ich mal Ihrer Fantasie, sich klarzumachen, welche Aufgabe das darstellt: Innerhalb von, ab jetzt, 22 Jahren das hinzukriegen, dass man diesen hellgrünen Zwackel so ausdehnt, dass dieser den ganzen offenen Rest ersetzt – jedenfalls vom Ergebnis her irgendwie, auch wenn man die Zahlen nicht eins zu eins rechnen kann.

Ich glaube, da wird die Utopie, die schier unglaubliche Hoffnung in das technisch Mögliche, recht deutlich. Wenn man einem Unternehmensleiter bei ähnlichen Themen solche Vorschläge gemacht hätte, in so kurzer Zeit
solche Anlagen, die selbst in der Errichtung zehn Jahre, zwanzig Jahre dauern, hinzubringen, kann man eigentlich nur mit dem Kopf schütteln. Das ist zu ambitioniert.»

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