WirtschaftsWoche Nr. 42, 11. Oktober 2019, S. 46.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihr Mandatim Laufe der Zeit immerausufernder interpretiert. Die Änderungen kamen zwar schrittweise, reichten aber, dass vier Deutsche den EZB-Rat vorzeitig verließen – drei davon unter offenem Protest. Zuletzt ging das Direktoriumsmitglied Sabine Lautenschläger. Mit der kürzlich getroffenen Entscheidung der EZB, ihre umstrittenen Staatsanleihekäufe wiederaufzunehmen, läuft das Fass nun endgültig über. In einem international verbreitetenMemorandum haben sich daher führende ehemalige Zentralbanker zu Wort gemeldet und die EZB hart kritisiert. Das Memorandum entlarvt die Begründungen der EZB für ihre Politik als interessenorientierte Scheinargumente.
Zur Gruppe der Autoren gehören die ehemaligen EZB-Chefvolkswirte Otmar Issing und Jürgen Stark, die ehemaligen Zentralbankpräsidenten Helmut Schlesinger, Klaus Liebscher und Nout Wellink sowie der ehemalige Vizegouverneur der französischen Zentralbank, Hervé Hannoun.
Auch die ehemaligen Präsidenten der Banque de France, Jacques Larosiere und Christian Noyer, werden im Memorandum als Unterstützer genannt. Noyer war von1998 bis 2003 Vizepräsident der EZB. DieProminenz dieser Namen lässt sich kaum überbieten.
Schon zuvor hatte es erheblichen Widerstand gegen den neuen Kurs der Notenbank gegeben. Heftige Proteste kamen etwa von den Vorsitzenden der beiden größten Finanzinstitute Deutschlands, ChristianSewing (Deutsche Bank) und Oliver Bäte (Allianz). Christian Thimann, der die rechte Hand zweier EZB-Präsidenten, AXA-Vorstand und Mitglied im französischenSachverständigenrat war, warnte, dass die Politik der EZB Deutschland in eine Versorgungskrise treibe. Das Memorandum hebt die Kritik nun aber auf eine neue politische Stufe: Es ist ein Paukenschlag, den auch der letzte EZB-Idealist nicht überhören kann.
Denn dieses Papier ist eine Abrechnung mit der Politik Mario Draghis und eine Warnung an die designierte neue Präsidentin Christine Lagarde, die öffentlich erklärt hat, den expansiven Kurs ihres Vorgängers fortsetzen zu wollen. Die extreme Geldpolitik der EZB sei gefährlich, meinen die Autoren, weil sie zu übertriebenen Immobilienpreisen führe und eine abrupte Krise zur Folge haben könne.
Diese Krise nähme dann ganz andere Dimensionen an als alle bisherigen. Null-und Negativzinsen der EZB förderten die Zombifizierung der Wirtschaft und hielten unrentable Firmen der Real- und Finanzwirtschaft am Leben, von denen kein Wachstum erwartet werden könne. Statt mit expansiven sei mit kontraktiven Effekten zur rechnen, soziale Unruhen lägen in der Luft. Jungen Menschen werde die Möglichkeit genommen, in Form sicherer verzinslicher Anlagen Vorsorge für ihr Alter zu leisten.
Die wichtigste Aussage des Memo-randums liegt in der Vermutung, dass der EZB-Rat womöglich eine Interessenpolitik im Dienste überschuldeter Staaten betreibt. Die beschlossene Fortsetzung der Staatspapierkäufe – schon bis Ende 2018 hatte der Bestand der erworbenen Papiere einen Umfang von 1900 Milliarden Euro – lasse den Verdacht aufkommen, dass es „die Intention der EZB sei, hochverschuldete Regierungen der Euro-Zone vor steigenden Zinsen zu schützen“.
Und, vermutlich an die Adresse des deutschen Verfassungsgerichts gerichtet, äußern sich die Exnotenbanker auch unmissverständlich zur Frage einer möglichen Mandatsüberschreitung der EZB. Die EZB habe sich längst „in den Bereich der monetären Finanzierung von Staatsaus-gaben begeben, die durch den EU-Vertrag strikt ausgeschlossen wurde“.
Keine Deflation in Sicht
Das Memorandum entlarvt schließlich auch das fortwährend wiederholte Argument des scheidenden EZB-Präsidenten Draghi, dass die Notenbank ihr Mandat verletzten würde, wenn die Inflationsrate zu niedrig sei. So zu argumentieren sei „schlichtweg inakkurat“, denn der Maastrichter Vertrag verlange von der EZB, die Preisstabilität zu wahren. Es habe im Übrigen nie die Gefahr einer Deflationsspirale gegeben. Auch der von EZB-Präsident Draghi verbreiteten Behauptung, dass es seit jeher Beschlusslage gewesen sei, ein symmetrisches Inflationsziel anzustreben, widersprechen die Experten.
Schärfer, grundsätzlicher und prominenter kann die Kritik an der EZB kaum ausfallen. Es stellt sich nun die Frage, wer diese mächtige Institution in ihre Schranken weisen kann. Der deutschen Politik fehlen dazu offenkundig der Wille und die Kraft. Der von den kleinen Ländern Europas dominierte Europäische Gerichtshof hat sich bereits hinter die EZB gestellt. Die letzte Hoffnung auf ein energisches „Stopp!“ liegt daher wieder einmal beim Bundesverfassungsgericht, das gerade sein Urteil zur deutschen Beteiligung an den Anleihekäufen vorbereitet.
Die Verfassungsrichter tragen bei diesem Urteil eine historische Verant-wortung.
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