Project Syndicate, 29. April 2011.
Warum mussten Griechenland, Irland und Portugal unter dem Rettungsschirm der Europäischen Union Schutz suchen, und warum munkelt man auch, dass Spanien bald so weit sein könnte?
Für viele liegt die Antwort auf der Hand: Die internationalen Märkte wollen die “GIPS”-Länder nicht mehr länger finanzieren. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn zumindest Griechenland, Irland und Portugal wurden schon drei Jahre lang praktisch nicht mehr von den Märkten finanziert, sondern von der Europäischen Zentralbank. Anhand der sogenannten “Target”-Konten, die bisher von den Medien ignoriert wurden, lässt sich erkennen, dass die EZB weit mehr als bisher bekannt an Rettungsaktionen beteiligt war.
Aber EZB hat jetzt kalte Füße gekriegt, und will aussteigen. Deshalb drängt sie die Mitglieder der Eurozone, mit dem neuen European Stability Mechanism (ESM) an ihre Stelle zu treten.
Normalerweise wird das Leistungsbilanzdefizit eines Landes (Handelsbilanzdefizit minus Transfers aus anderen Ländern) durch einen Zufluss von privatem Kapital aus dem Ausland finanziert. In einer Währungsunion allerdings können, wenn der private Kapitalfluss nicht ausreicht, Kredite der Zentralbank diese Rolle übernehmen. Genau dies ist in der Eurozone passiert, als Mitte 2007 erstmals der Interbankenmarkt zusammenbrach.
Die Zentralbanken der GIPS-Länder liehen ihren Privatbanken in großem Umfang Extratranchen an frisch hergestelltem Geld zur Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite. Das Geld floss in die Exportländer, wo es dann weiterhin zirkulierte. Die Zentralbanken der Exportländer reagierten darauf, indem sie den eigenen Geldverleih an die nationale Wirtschaft reduzierten. Im Endeffekt änderte sich zwar nirgends die Geldmenge, doch wurden die Zentralbanken der Exportnationen über das Zentralbankensystem gezwungen, Kredite an andere Länder, mit denen diese Länder ihre Importe bezahlen konnten. Die Zentralbanken der Exportländer, allen voran Deutschlands, erhielten dafür zwar verzinsliche Forderungen gegen die EZB, doch fehlte der Kredit im eigenen Land.
Die Höhe der “Ersatzkredite” der EZB wird durch das sogenannte “Target2”-Konto angezeigt, welches das Defizit oder den Überschuss der Finanztransaktionen eines Landes mit anderen Ländern angibt. Da das Konto internationale Zahlungen sowohl für den Warenhandel als auch für finanzielle Forderungen erfasst, zeigt ein Defizit im Target-Konto eines Landes eine internationale Kreditaufnahme über die EZB an, während ein Überschuss eine Kreditvergabe über die EZB an das Ausland misst.
Die Target-Salden werden nicht in der Bilanz der EZB ausgewiesen, da sie in der Summe über alle Euroländer Null sind, aber sie tauchen in den Bilanzen der jeweiligen nationalen Zentralbanken als verzinsliche Forderungen bzw. Verpflichtungen gegenüber dem EZB-System auf. Bis Mitte 2007 lagen die Target-Konten in der Nähe von Null. Danach wuchsen sie um jährlich etwa 100 Milliarden Euro. Die Target-Forderungen der Bundesbank beispielsweise explodierten von 5 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 323 Milliarden im März 2011. Als Gegenstück zu diesen Forderungen wuchsen die Schulden der GIPS-Länder bis Ende letzten Jahres auf etwa 340 Milliarden Euro. Interessanterweise liegt das kumulierte Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Länder von 2008 bis 2010 in fast derselben Größenordnung – nämlich bei genau 365 Milliarden Euro. Bei genauerem Hinsehen stellt man freilich fest, dass Irland sich im Übermaß über die Target-Kredite verschuldet hat, während Spanien deutlich zurückhaltender war. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb Spanien bislang noch nicht unter den Rettungsschirm gedrängt wurde.
Hätte die EZB diese Defizite nicht finanziert, wäre es für die GIPS-Länder schwierig geworden, das Geld für ihre Nettoimporte an Gütern aufzubringen. Hohe Zinsen hätten sie gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen, und die hohen Leistungsbilanzdefizite, in Griechenland und Portugal derzeit mehr als 10% des BIP, wären gar nicht erst entstanden.
Man sollte die EZB nicht grundsätzlich dafür kritisieren, dass sie den GIPS-Ländern in der großen Rezession von 2009 unter die Arme griff. Um die Wirtschaftssysteme dieser Länder vor dem Zusammenbruch zu bewahren, waren ungewöhnliche Maßnahmen erforderlich. Aber es sollte klar sein, dass dies keine Währungspolitik im eigentlichen Wortsinn war, sondern ein Bailout. Jetzt, da sich die Weltwirtschaft weitgehend wieder von der Krise erholt hat, ist es Zeit, diese Vorgehensweise zu beenden – nicht zuletzt deshalb, weil der EZB die Munition ausgeht.
Ende letzten Jahres betrug der Gesamtgeldbestand der Zentralbanken in der Eurozone 1,07 Billionen Euro, und 380 Milliarden davon fielen bereits auf die EZB-Kredite an die GIPS-Länder. Die Finanzierung eines jährlichen Target-Defizits in Höhe von 100 Milliarden Euro würde also innerhalb von sechs oder sieben weiteren Jahren den gesamten Kreditbestand aus der Eurogeldschöpfung aufzehren.
Die EZB möchte die Finanzierung der GIPS-Länder nun dem Luxemburger Rettungsschirm der EU, also dem EFSF oder auch ESM, übergeben. Manche Länder fordern sogar Eurobonds. Aber dies würde die öffentliche Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits der GIPS, die nun schon im vierten Jahr stattfindet, lediglich für ein paar weitere Jahre fortsetzen. Am Ende würde entweder der Euro kollabieren, oder es würde in Europa eine Transferunion eingeführt, die die Leistungsbilanzdefizite durch zwischenstaatliche Spenden finanziert.
Die EU sollte sich den Luxemburg-Fonds besser für echte Notfälle aufsparen, und die EZB sollte ihre Mitgliedsinstitutionen in den GIPS-Ländern anweisen, für die Kreditvergabe deutlich bessere Sicherheiten zu verlangen. Obergrenzen für die Target-Salden wären ein adäquates Mittel, die rechtzeitige Erhöhung der Sicherheitsstandards durchzusetzen. Solche Obergrenzen würden die Leistungsbilanzdefizite nicht verhindern, aber sie würden diese Defizite auf das Maß reduzieren, das die privaten Märkte in der Lage sind zu finanzieren.
Um die Leistungsbilanzdefizite unter Kontrolle zu halten, sind Obergrenzen für die Target-Konten jedenfalls ordnungspolitisch besser geeignet als staatliche Eingriffe in die Lohnbildung, über die im Rahmen des Stabilitätspakts für den Euro nachgedacht wird. Ein staatlicher Lohndirigismus ist nur für Planwirtschaften angebracht.
Vielleicht sollten sich die GIPS-Länder Italien als Beispiel nehmen. Obwohl das Land Zinsaufschläge zahlen musste und ein Leistungsbilanzdefizit aufgebaut hatte, hielt Mario Draghi (der führende Bewerber für die Leitung der EZB im Herbst) die Kreditaufnahme seiner Zentralbank während der gesamten Krise in engen Grenzen. Trotz der sicherlich starken Versuchung hat Italien keine Target-Defizite aufgebaut, sondern sich für tugendhafte Abstinenz entschieden.
Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts.
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