Geldpolitik oder Verteilungspolitik?

Hans-Werner Sinn

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 2021, Nr. 207, S. 16.

Für die Zinsen könne man die EZB nicht verantwortlich machen, schrieb der Ökonom Martin Hellwig in der F.A.Z. – das kann so nicht stehen bleiben, entgegnet der frühere Präsident des Ifo-Instituts München.

Martin Hellwig hat in dieser Zeitung versucht, die Europäische Zentralbank (EZB) gegen den von Paul Kirchhof und mir erhobenen Vorwurf zu verteidigen, sie enteigne mit ihrer Null- und Negativzinspolitik die Sparer. Für die Zinsen könne man die EZB nicht verantwortlich machen, meint er. So weit reiche ihr Einfluss nicht. Das kann so nicht stehen bleiben.

Die EZB hatte sehr wohl die Macht, die Zinsen null und negativ werden zu lassen, denn sie hat den Einlagensatz auf -0,5 Prozent gesetzt, und sie verleiht Geld zu Null- und Negativzinsen, die bis zu einem Wert von -1 Prozent reichen. Der Zins auf dem europäischen Interbankenmarkt (EONIA) folgt dem Einlagensatz empirisch fast perfekt. Es steht völlig außer Frage, dass die EZB die Marktzinsen auf dem Interbankenmarkt, die letztlich bis zu den Bankkunden durchschlagen, durch die von ihr direkt festgesetzten Zinsen völlig in der Hand hat.

Zinsen fallen seit Jahrzehnten

Hellwig meint, die Banken müssten ja keine Einlagen bei der Notenbank zu einem Zins von -0,5 Prozent halten. Das täten sie freiwillig, weil die Einlagen bei der Notenbank so sicher seien. Dieses Argument ist inhaltsleer, denn bei allen das Preisgefüge verzerrenden Politikmaßnahmen staatlicher Instanzen tun die Wirtschaftssubjekte immer freiwillig, was sie tun. Die Freiwilligkeit ist kein Kriterium, anhand dessen man beurteilen kann, ob eine Politikmaßnahme greift oder nicht.

Hellwig betont, es komme im Übrigen nicht auf den Nominalzins, sondern auf den Realzins an, also die Differenz zwischen Marktzins und Inflationsrate. Den Realzins könne die EZB nicht bestimmen. Diese Behauptung ist spitzfindig. Wenn eine Nominalzinssenkung die Preise nicht beeinflusst, fällt der Realzins zunächst auf jeden Fall. Und wenn sie es doch tut, weil die Güternachfrage belebt wird, dann kann sie nur inflationär wirken. Das aber lässt die Realzinsen noch weiter sinken, als es durch die Nominalzinssenkung selbst bereits vorgegeben ist. Der Verweis auf die Realzinsen kann die EZB nicht exkulpieren.

Hellwig sagt, die Zinsen seien schon jahrzehntelang am Fallen, auch schon vor der Gründung der EZB. Richtig. Tatsächlich begann der Zinsverfall nach dem dramatischen Zinsgipfel mit Zinssätzen von 17 Prozent und mehr, den die US-amerikanische Federal Re­serve Bank unter dem Gouverneur Paul Volcker in den Jahren 1979 und 1980 erzeugt hatte. Die Jahre danach brachten eine lange Phase der Zinsmoderation, die nicht nur von der Fed, sondern auch von der japanischen Notenbank mit dem von ihr erfundenen QE-Programm ermöglicht wurde, das anschließend von vielen Zentralbanken kopiert wurde. Am Ende dieses Prozesses standen die enteignungsgleichen Aktionen der EZB. Die EZB hat den Zinsrückgang nicht initiiert, aber sie hat in den gut zwanzig Jahren ihrer Existenz daran mitgewirkt.

Die EZB hat sogar sehr kräftig am Zinsrückgang mitgewirkt. In Relation zur Wirtschaftsleistung hat sie die Zen­tralbankgeldmenge bis zur Jahresmitte 2021 mit einem Wert von 59 Prozent inzwischen auf ein viel höheres Niveau getrieben, als es die Fed getan hat, die nur auf 28 Prozent kommt. Der Geldmengenzuwachs wurde vor allem durch Staatspapierkäufe bewerkstelligt. Im August lag der Bestand der Papiere öffentlicher Einrichtungen in den Bilanzen des Eurosystems bei mindestens etwa 3,7 Billionen Euro, vermutlich lag er eher über 3,8 Billionen Euro, wenn man die sogenannten ANFA-Bestände mitrechnet. Die gesamte Zentralbankgeldmenge dürfte bei etwa 6 Billionen Euro gelegen haben. Vor der Lehman-Krise, zur Jahresmitte 2008, hatte die Geldmenge bei 880 Milliarden Euro, also ungefähr einem Siebtel, gelegen. Die massiven Staatspapierkäufe zeugen von einer Intervention der EZB in das Marktgeschehen, die man nur als atemberaubend bezeichnen kann.

Aber die EZB hat durch ihre Geldpolitik nicht nur die Zinsen im Allgemeinen gesenkt, sondern darüber hinaus auch die länderspezifischen Risikoprämien in den Zinsen weitgehend eliminiert. Sie hat 2012 mit dem OMT-Programm eine Kreditausfallversicherung eingeführt. Und sie hat durch ihre Refinanzierungskredite und Wertpapierkäufe den konkursgefährdeten Ländern der Eurozone Kredite billiger zur Verfügung gestellt, als die Kapitalmärkte es wollten. Durch beide Maßnahmen hat sie die Bürger Europas ungefragt und kompensationslos in die Haftung für Kreditausfälle genommen. Die Bürger erhalten heute als Sparer nur noch den Zins für sichere Anlagen, doch als Steuerzahler und Eigentümer der Notenbanken wurden sie zur unentgeltlichen Übernahme der Kreditrisiken gezwungen. Ihnen die Risikoprämien wegzunehmen, nicht aber die Risiken selbst, bedeutet eine besonders krasse Form von Enteignung, auch wenn sie aufgrund der Komplexität des Geschehens noch nicht bis zur öffentlichen Wahrnehmung vorgedrungen ist.

Eine letzte Bemerkung zu Hellwigs Gag am Ende seines Textes. Es sei doch paradox, meint er, dass Kritiker der EZB gegen Mindestlöhne, doch für Mindestzinsen seien. Er verkennt die Intentionen dieser Kritiker. Sie sind in allen Fällen gegen die hoheitliche Intervention in das Marktgeschehen. Insofern geht es nicht um von der EZB verordnete Mindestzinsen, sondern ganz im Gegenteil um den Verzicht auf deren marktwidrige und enteignungsgleiche Eingriffe in die Einkommensverteilung. Es sei hier an das Memorandum der ehemaligen Notenbankgouverneure Helmut Schlesinger, Otmar Issing, Nout Wellink, Klaus Liebscher, Jacques de Larosière, Jürgen Stark, Christian No­yer und Henning Knout aus dem Jahr 2019 erinnert. Diese Insider der EZB überblicken die Motivationslage der dort Handelnden. Sie haben den Verdacht geäußert, dass die EZB verteilungspolitische Zielsetzungen verfolgt.

Hans-Werner Sinn war Präsident des Ifo-Instituts München. Hellwigs Beitrag, auf den er antwortet, erschien in der F.A.Z. vom 3. September.

Nachzulesen auf www.faz.net.