WirtschaftsWoche, 17. Dezember 2021, Nr. 51, S. 43.
Solche Inflationszahlen hat Deutschland schon lange nicht mehr erlebt. Die Konsumentenpreise sind mit gut fünf Prozent so stark gestiegen wie seit 29 Jahren nicht mehr, die Großhandelspreise haben mit 15 Prozent so kräftig zugelegt wie seit 60 Jahren nicht mehr. Und um den Anstieg der gewerblichen Erzeugerpreise in Höhe von 18 Prozent zu toppen, muss man sogar 70 Jahre zurückgehen. In anderen europäischen Ländern ist die Lage zum Teil noch dramatischer, Deutschland liegt bei der Inflation nur im Mittelfeld. So verzeichnen Belgien und die baltischen Länder bereits Anstiege der Konsumentenpreise von sieben bis mehr als neun Prozent. Die Erzeugerpreise kletterten zuletzt in Italien, den Niederlanden und Spanien um 25 bis 32 Prozent.
Doch die Europäische Zentralbank (EZB) tut sich schwer, die Realitäten anzuerkennen. Sie redet von einem nur temporären Inflationsbuckel - und gibt lieber ihr Inflationsziel auf, als dass sie gegen die Teuerung vorginge. Sie will die Zinsen so lange wie möglich niedrig halten, die überfällige Kehrtwende, solange es geht, hinausschieben. Wenn man den Exgouverneuren und Exvolkswirten des Euro-Systems glauben darf, die schon 2019 ein warnendes Memorandum zum Thema veröffentlicht haben, zögert die EZB, weil sie die überschuldeten Staaten der Euro-Zone vor höheren Zinslasten schützen will.
Die Zinswende lässt sich nicht mehr leicht realisieren, weil die niedrigen Zinsen von heute durch eine Geldschwemme ungeahnten Ausmaßes entstanden sind. Die EZB hat die Zentralbankgeldmenge während der Krisenjahre seit dem Sommer 2008 versiebenfacht - und gemessen an dem seither realisierten Zuwachs der Wirtschaftsleistung im Euro-System, immerhin noch versechsfacht.
Dabei entstand ein Geldüberhang von knapp fünf Billionen Euro, wovon vier Billionen Euro durch den Ankauf von Staatsanleihen zustande kamen. Eine wirkliche Zinswende verlangte, diesen Geldüberhang abzubauen. Aber davon ist noch keine Rede. Die EZB erwägt eine Verringerung der Zunahme des Geldüberhangs - nicht jedoch eine Verringerung des Überhangs selbst. Kein Gedanke an einen auch nur partiellen Rückbau.
Dabei hat die Notenbank nicht nur die Zinslast der hoch verschuldeten Staaten des Euro-Raums im Blick, sondern auch das Schicksal der Banken. Kreditinstitute, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben, würden empfindliche Abschreibungsverluste erleiden und ins Straucheln geraten, wenn aufgrund eines Rückverkaufs der Staatspapiere die Kurse purzeln. Kurzum: Die Inflation hat freien Lauf, weil die EZB nicht weiß, wie sie wieder aus der Sackgasse herauskommt, in die sie sich durch ihre haltlose Geldpolitik manövriert hat.
Die US-Notenbank Fed ist offenbar eher bereit, geldpolitisch umzusteuern. Zwar hat auch sie bislang nur das Tempo der Geldmengenerhöhung verringert. Doch es gibt Berichte, nach denen Präsident Biden seinem Notenbankchef Jerome Powell grünes Licht für eine Kehrtwende gegeben hat.
Den Amerikanern steckt noch der Paul-Volcker-Schock in den Knochen. Volcker wurde 1979 Notenbankpräsident und setzte die Zinsen am kurzen Ende bis auf 20 Prozent hoch - nachdem man die Inflation jahrelang hatte laufen lassen. Die Gewaltbremsung führte zu einer raschen Dollar-Aufwertung; viele hoch verschuldeten Staaten Lateinamerikas waren danach konkursreif.
Auch dem amerikanischen Staat fällt es schwer, höhere Zinsen zu akzeptieren. Doch weiß man in Amerika, dass es besser ist, frühzeitig zu bremsen, wenn sich die Inflation beschleunigt - statt verspätet eine Vollbremsung zu vollziehen, die den Wagen ins Schlingern bringt.
Wenn es so kommt, dass die Fed bremst und Europa nicht mitzieht, wird sich ein wachsendes Zinsdifferenzial zwischen dem Dollar-Raum und der Euro-Zone ergeben. Die asymmetrische Geld- und Zinspolitik dürfte viele Anleger veranlassen, ihr Geld in US-amerikanische Treasury Bills umzulenken - was eine höhere Dollar-Nachfrage auf den Devisenmärkten, eine Aufwertung des Dollar und eine Abwertung des Euro induziert.
Schon heute sieht man diesen Effekt: Seit Jahresbeginn liegen die US-Zinsen über denen der Euro-Zone. Selbst das hoch verschuldete Italien kann sich heute billiger verschulden als der amerikanische Bundesstaat. Das ist der Grund dafür, dass sich in den vergangenen Monaten bei aller Volatilität des Wechselkurses eine starke Tendenz zur Euro-Abwertung gezeigt hat.
Leider ist ein schwächerer Euro wiederum ein Preistreiber ersten Ranges. Denn er erzeugt eine importierte Inflation, weil Importgüter teurer werden und die Exporteure ihre Euro-Preise schadlos erhöhen können. Das ermuntert die Gewerkschaften zu höhen Lohnforderungen - und kann eine Lohn-Preis-Spirale provozieren.
So gesehen dürfte es sich rächen, wenn die EZB zu zögerlich reagiert. Die Inflation ist wie ein Feuer, das man sofort austreten muss. Andernfalls kann dieses Feuer außer Kontrolle geraten.
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