Die geprägte Freiheit unter der Matratze

Laut Umfragen zahlen die Deutschen in der Krise weniger bar. Für einen Abgesang auf das Bargeld ist es aber zu früh – aus mehreren Gründen.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche Nr. 30, 17. Juli 2020, S. 41.

Halten die Deutschen plötzlich weniger Bargeld? Das könnte man glauben, wenn man die Umfragen von YouGov zum Zahlungs verhalten während der Coronakrise zur Kenntnis nimmt. Danach hat ein Drittel der befragten Bundesbürger erklärt, dass sie beim Einkaufen weniger Bargeld benutzen als vor der Krise. Daraus lässt sich ableiten, dass die Beliebtheit von Kreditkarten wegen der
Pandemie etwas gestiegen ist.

Allerdings geht der Trend auch ohne Zutun des Virus langfristig immer weiter in die Richtung der bargeldlosen Zahlung. Schließlich wird diese Zahlungsart aufgrund der großen Fortschritte im Zahlungsverkehr immer bequemer, billiger und sicherer. In China haben die jungen Leute heute schon keine Geldbörse mehr. Bei uns dürfte es früher oder später auch so kommen.

Gegen diesen langfristigen Trend hat sich in der Krise freilich auch ein temporärer Gegentrend herausgebildet: Viele Menschen hoben aus Angst vor einem Kollaps des Bankensystems ihr Geld von den Spar- und Girokonten ab und verwahrten es in Form von Bargeld zu Hause oder in Schließfächern. So war es etwa im März dieses Jahres, als sich das Bewusstsein von der aufkommenden Coronagefahr verdichtete und die schrecklichen Bilder von den Leichentransporten in Italien über die Fernsehbildschirme flimmerten.

In dieser Zeit kam es nicht nur zu einem beispiellosen Aktiencrash, sondern auch zu einem Bankrun, der die Banken zwang, die abhebbaren Beträge drastisch zu begrenzen. Trotz dieser Hürde für die Kunden musste die Bundesbank vor allem in der Woche nach dem 16. März sehr viel Bargeld aus ihren Beständen an die Banken liefern, damit diese den Kundenwünschen halbwegs nachkommen konnten. In der Summe wurden im März 13 Milliarden Euro netto ausgeliefert. Das war zwar nicht so viel wie nach dem Lehman-Crash im Oktober 2008, als die Lieferwagen der Bundesbank 18 Milliarden Euro zu den Geldhäusern brachten. Doch war die Situation damals bekanntlich sehr brenzlig und nur durch eine Garantie von Kanzlerin und Finanzministers beherrschbar.

Banknoten werden gehortet

Ein solches Einschreiten der Politik zur Stabilisierung des Bankensystems war diesmal unnötig, denn der harte Lockdown hielt die Leute vorerst in den Häusern. Trotzdem ist das Bankenverhalten bemerkenswert. Denn die Kreditinstitute hatten sich bereits zuvor ein hohes Bargeldpolster angelegt und hätten so gesehen die Begrenzung der Barabhebungen nicht vornehmen müssen. Um den Negativzinsen auf Einlagen bei der Bundesbank auszuweichen, hielten die Kreditinstitute immer mehr Zentralbankgeld in Form von physischen Banknoten (statt als Buchgeld auf ihren Konten bei der Bundesbank). Der Bestand der gehorteten Banknoten stieg dadurch von etwa 15 Milliarden im Jahr 2015 auf rund 40 Milliarden Euro bis zum Jahresbeginn 2020.

Der Umstand, dass an der Ladenkasse derzeit mehr Menschen mit der Karte zahlen, steht diesem neuen Interesse am Bargeld nicht entgegen. Denn wenn man den Einkauf elektronisch begleicht, leert sich das Girokonto – und man behält mehr Bargeld in der Tasche. Es muss daher nicht zwingend die Ansteckungsgefahr gewesen sein, die das Interesse an der elektronischen Zahlung verstärkt hat.

Sicher: All diese Reaktionen dürften sich inzwischen normalisiert haben. Sie zeigen gleichwohl, wie rasch die Menschen bereit sind, ihr Geld von den Konten abzuheben, wenn sie es dort nicht mehr sicher wähnen. Oder wenn es dort ungebührlich belastet würde, zum Beispiel durch Negativzinsen, wie sie die Banken bereits selbst für ihre eigenen Giralgeldbestände bei der Bundesbank zahlen müssen.

Spielereien des IWF

Die Existenz von Bargeld als sicherem Hafen für das liquide Vermögen ist eine wirksame Barriere gegen allzu waghalsige Experimente der Europäischen Zentralbank (EZB). Diese versucht bekanntlich, das Spiegelbild einer normalen Zinswirtschaft zu errichten. Wehe jedoch, wenn es das Bargeld irgendwann nicht mehr gibt oder die akademischen Spielereien des Internationalen Währungsfonds (IWF) wahr werden. IWF-Ökonomen haben im vergangenen Jahr die Einführung einer dualen Währung angeregt. Dabei geht es um ein Geldsystem, bei dem nur noch Giralgeld bei der Notenbank als gesetzliches Zahlungsmittel dient, während Bargeld einen variablen Wechselkurs zum Giralgeld erhält. Die Notenbank hat dann die Möglichkeit, negative Zinsen auf das Giralgeld festzulegen – weil sie die Flucht in das Bargeld verhindern kann, indem sie es Jahr um Jahr im Umfang des Negativzinses abwertet.

Das erhöht die Macht der Notenbank. Doch die „geprägte Freiheit“, von der der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski einst im Zusammenhang mit dem Bargeld sprach, ist dahin.

Nachzulesen auf www.wiwo.de.