Grobes Versagen der Verantwortlichen

Von Thorsten Jungholt, Claudia Kade, Welt online, 1. Januar 2021

Harte Kritik aus der Leopoldina: Neurologin Frauke Zipp wirft der Regierung vor, zu wenig Impfdosen beschafft zu haben und Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Die Opposition erinnert die Kanzlerin und Gesundheitsminister Spahn an ihren Eid, die Bevölkerung zu schützen.

Seit wenigen Tagen habe die Hoffnung Gesichter, sagte Angela Merkel (CDU) in ihrer Neujahrsansprache: „Es sind die Gesichter der ersten Geimpften.“ Tagtäglich würden es mehr, schrittweise kämen zunächst die priorisierten Alters- und Berufsgruppen an die Reihe – „und dann alle, die es möchten. Auch ich werde mich impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin“.

Wenn sie an der Reihe ist: Diese Worte der Bundeskanzlerin sind ein Aufruf zur Geduld. Denn tatsächlich kommt die von der Regierung nach Weihnachten gestartete Impfkampagne nur schleppend in Gang. Der Grund ist ein Mangel an Vakzinen.

Während sich beispielsweise die Vereinigten Staaten bereits im Juli bis zu 600 Millionen Dosen des von Biontech aus Deutschland und Pfizer aus den USA hergestellten Impfstoffs sicherten, hat die Europäische Union erst im November bestellt – und dann nur 300 Millionen Dosen, die nun unter den 27 Mitgliedstaaten aufgeteilt werden.

Die EU folgte der Strategie, ihre Bestellungen auf mehrere Firmen zu verteilen, die angekündigt hatten, einen Impfstoff entwickeln zu wollen. Nun aber können die meisten dieser Firmen noch nicht liefern – anders als Biontech und Pfizer. Und das führt zu dem Phänomen, dass der aus der Forschungsarbeit des deutschen Unternehmens Biontech hervorgegangene Impfstoff in Deutschland derzeit ein extrem rares Gut ist.

„Ich halte die derzeitige Situation für grobes Versagen der Verantwortlichen“, sagte Frauke Zipp WELT. „Vor Kurzem gab es noch offizielle Totengedenken, jetzt zählt offenbar nicht mehr jeder Tag, an dem Menschenleben gerettet werden könnten. Jetzt wird Geduld eingefordert.“

Zipp ist Ärztin, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz sowie Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die die Bundesregierung berät. Im Rat für Technologie versorgt die Professorin auch die rheinland-pfälzische Landesregierung mit medizinischer Expertise.

Hatte Biontech mehr Impfstoff angeboten?

Biontech hat seinen Firmensitz ebenfalls in Mainz, Unternehmenschef Ugur Sahin und die auf Neuroimmunologie spezialisierte Forscherin Zipp kennen sich persönlich. „Warum hat man im Sommer nicht viel mehr Impfstoff auf Risiko bestellt?“, fragt sie nun. „Es gab diese Angebote, wir hätten sie jetzt zur Verfügung“. Nach ihrem Kenntnisstand habe „Biontech im Spätsommer wesentlich mehr Impfdosen angeboten“. Und mit den Behring-Hallen in Marburg habe das Unternehmen auch bereits im September zusätzliche Produktionsstätten gekauft.

Zipps Rechnung: „Wenn man bei den damals schon Erfolg versprechenden Unternehmen wie Biontech, Curevac, Moderna, Astra Zeneca und einem weiteren schon im Sommer für jeweils 60 Prozent der Bevölkerung – für Deutschland also etwa jeweils 100 Millionen Dosen zu je rund 20 Euro – bestellt hätte, dann wären das für Deutschland gerechnet Kosten von rund zehn Milliarden Euro gewesen.“ Viele der Impfstoffe seien sogar deutlich billiger: „Das ist nichts im Vergleich zu den Summen, die man gerade zur Stützung der Wirtschaft aufwenden muss. Ganz zu schweigen von den Menschenleben, die durch eine frühe und zügige Impfung zu retten wären.“

Andere Länder wie die USA, Großbritannien, Israel und Kanada seien so verfahren, so die Professorin – und könnten nun wohl schon im Frühjahr einen großen Teil ihrer Bevölkerung geimpft haben. Auch in Deutschland könne bei genügend verfügbarem Impfstoff eine Durchimpfung von 60 Prozent der Bevölkerung in zwei bis drei Monaten gelingen, glaubt Zipp: „Als langjährig molekularbiologisch forschende Medizinerin kann ich auch sagen, dass eine Impfstoffproduktion – besonders der RNA-Impfstoffe – in diesem Umfang für EU-Länder ebenso möglich gewesen wäre.“

„Was wäre das Risiko gewesen?“, fragt Zipp. „Wenn alle Impfstoffe effektiv und sicher wären, hätte man zwar zu viel Impfstoff – der könnte aber an ärmere Länder weitergegeben werden.“ Es gäbe keinen Schaden, sondern Deutschland hätte einen Überschuss an Impfstoff als „Ausdruck von Solidarität“ teilen können.

Deutschland könnte mehr impfen

Nun aber könne der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach recht behalten: „Ohne Impfung oder effiziente Therapie führt dieses Virus schließlich, nur auf Deutschland gerechnet, zu Hunderttausenden Toten, bevor es durch die sogenannte Herdenimmunität ,ausbrennt‘. Da können alle derzeitigen Pandemiemaßnahmen nur eine Verzögerung erreichen. Diese gewonnene Zeit hätte genutzt werden sollen und müsste weiter genutzt werden!“

Zipp geht davon aus, dass Deutschland mit dem entsprechenden Willen noch mehr Impfdosen beschaffen könne: „Das ist immer noch möglich, denn es gibt weitere Unternehmen und wesentlich mehr Kapazitäten zur Produktion solcher Impfstoffe, als allein Biontech zur Verfügung hat.“ Im „Spiegel“ kündigte Unternehmenschef Sahin an, seine Produktionskapazität zu erweitern: „Unsere neue Produktion in Marburg wird vielleicht schon im Februar, weit früher als geplant, bereit sein und im ersten Halbjahr bis zu 250 Millionen Dosen herstellen können.“

Sahin sagte weiter, auch er habe sich über die Einkaufspolitik der EU gewundert: „Der Prozess in Europa lief sicherlich nicht so schnell und geradlinig ab wie mit anderen Ländern. Auch weil die Europäische Union nicht direkt autorisiert ist, sondern die Staaten ein Mitspracherecht haben. In einer Verhandlungssituation, in der es einer starken Ansage bedarf, kann das Zeit kosten.“

Kritik aus der Opposition

Die Oppositionsparteien nehmen die Kritik der Wissenschaftler auf. „Die Kritik an der Impfstoffbeschaffung ist sehr ernst zu nehmen“, sagte FDP-Generalsekretär Volker Wissing WELT. Als Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz kennt er Zipp aus dem Technologierat der Landesregierung, wie die Medizinerin verweist er auf das Vorgehen anderer Staaten: „Wir sehen am Beispiel Israels und anderer Länder, dass es möglich ist, schneller zu impfen. Die Bundesregierung muss sehr gut erklären, warum das in Deutschland so schleppend läuft.“

Die Regierung habe sich vom Parlament alle Befugnisse zum Bevölkerungsschutz übertragen lassen und stehe deshalb „jetzt auch in der vollen Verantwortung, Leben zu schützen. Dagegen dürfen nach unserer Verfassung keine anderen Rechtsgüter abgewogen werden. Die Bundesregierung hat vor dem Parlament geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Dieser Eid war selten aktueller als in der derzeitigen Situation.“

Auch Linke-Chef Bernd Riexinger zeigte sich gegenüber WELT „schon ein wenig verwundert, wie wenig Impfdosen die EU bestellt hat“. Seine Forderung: „Statt mit zahlreichen Pharmaunternehmen über Impfungen zu verhandeln, deren Zulassung noch ungeklärt ist, sollte die Bundesregierung schnell Lizenzen zur Nachproduktion des Biontech/Pfizer-Impfstoffes vergeben.“ Das liege direkt in der Hand von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

„Er hat das Recht, genau das zu tun. Unterlässt er es, gefährdet er zahlreiche Menschenleben“, so Riexinger. „Denn die Virusmutation, von der wir in den letzten Tagen viel gehört haben, macht eins deutlich: Eine erfolgreiche Impfstrategie ist eben auch ein Wettlauf gegen die Zeit.“

Kordula Schulz-Asche, in der Grünen-Bundestagsfraktion Berichterstatterin für Infektionsschutz, ist der Auffassung, dass es „aus heutiger Sicht sicher besser gewesen wäre, mehr und verschiedene Impfstoffe bei den über 100 Entwicklern auf Risiko zu bestellen“. Allerdings verweist sie darauf, dass sich im Sommer auch das Biontech-Vakzin noch in der Testphase befunden habe.

Ihre Schlussfolgerung: „Die EU sollte gemeinsam mit den Mitgliedstaaten sehr genau die Maßnahmen des letzten Jahres prüfen, um für die Zukunft besser gewappnet zu sein. Dazu gehört allerdings auch, dass für das Impfen ausreichend Gesundheitspersonal zur Verfügung steht.“

Biontech will mehr Impfstoff an EU liefern

Am Abend teilte Biontech-Chef Sahin der Nachrichtenagentur dpa mit, das Unternehmen befinde sich „in fortgeschrittenen Diskussionen, ob und wie wir weitere Impfstoffdosen aus Europa für Europa in diesem Jahr zur Verfügung stellen können“. Wegen der aktuell hohen Infektionszahlen sei eine zügige Impfstoffversorgung besonders wichtig. „Wir arbeiten mit der EU zusammen, um unsere Produktionskapazitäten weiter auszubauen und zusätzliche Impfstoffdosen bereitstellen zu können.“

Er verwies darauf, dass diese Woche mit der EU-Kommission vereinbart worden sei, weitere 100 Millionen Impfstoffdosen zu liefern. Dabei wurde eine im EU-Rahmenvertrag ohnehin vereinbarte Option gezogen: Fest bestellt waren zunächst 200 Millionen Dosen des Biontech-Impfstoffs mit der Möglichkeit zum Kauf von 100 Millionen weiteren Einheiten. Diese Erweiterung wurde vor einigen Tagen vertraglich vereinbart, nachdem die EU-Staaten entsprechenden Bedarf angemeldet hatten.

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